Das Leben des Manisch-Depressiven ist ein steter Wandel über dem Abgrund Foto: Verlag

Thomas Melle erzählt in seinem Buch „Die Welt im Rücken“ die Geschichte seiner bipolaren Persönlichkeitsstörung. Sein für den Deutschen Buchpreis nominiertes Werk ist mehr als nur ein Krankenbericht: ein Stück großer Literatur.

Stuttgart - Dieser Mann ist krank. Man könnte nun als Kritiker sein weißes Mäntelchen anziehen, sich als dilettierender Seelenarzt verkleiden und sich zurücklehnen: „Erzählen Sie Herr Melle, erzählen Sie.“ Aber hier bedarf es keiner Ärzte, sondern Leser. Denn dieser Mann ist eben nicht nur krank, sondern hat seinem Unglück ein in seiner Eigenart beeindruckendes Buch abgetrotzt. Es führt vor, wie heikel und widersprüchlich beides miteinander zusammenhängt: der Glanz großer Literatur und der Horror einer manisch-depressiven Erkrankung.

Depression: Ursachen, Symptome, Therapie.

In der „Welt im Rücken“ legt Thomas Melle sein von einer bipolaren Störung zerrüttetes Leben offen. Völlig zurecht ist sein Buch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Damit werden in der Regel Romane geehrt. Aber was soll’s, wenn diese schweren Erfahrungen abgerungene Prosa sich zu etwas fügt, das radikaler als alles vom tiefen Riss zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft erzählt, der seit je die Gattung durchzieht?

In seinem letzten, vor drei Jahren ebenfalls für den Buchpreis nominierten Roman „3000 Euro“ hat Melle vom prekären Rand aus das Ganze in den Blick gerückt und nüchtern das uneingelöste Glücksversprechen präsentiert, mit dem die Gesellschaft ihre demolierten Mitglieder an sich bindet: Kredite, Pornografie, Internet oder Unterhaltungstrash. Die, die für ihre Schulden bitter büßen müssen, bleiben darin selbst als Geprellte zurück.

Das Drama beginnt mit einem digitalen Fake

Hier nun wird die Perspektive erweitert: Der ihrem Wesen nach psychotischen Welt des Kapitalismus tritt der Psychotiker zur Seite – in Gestalt des Autors selbst. Es ist ein Topos der Psychiatriekritik, dass sich so genau gar nicht sagen lasse, mit wem etwas nicht stimmt, mit der Gesellschaft oder mit dem Kranken. Schonungslos offenbart Melle in seiner Selbstbeobachtung alles, was die romantische These relativiert, der Psychotiker sei, wenn nicht der einzig Gesunde in einer kranken Umgebung, so doch mindestens ihr Opfer. Er führt die brüchigen Basteleien der Wahngebäude vor, die sich die Welt gemäß machen. Und den giftigen Grund, auf dem sie stehen.

Doch wo fängt eigentlich der Wahnsinn an? Schon mit der Begeisterungsfähigkeit junger Leute, die sich vor dem kränkenden Antlitz der Welt in Musik und Literatur flüchten? Oder erst bei der Einbildung, Sex mit Madonna haben zu können, und zusammen mit der Schriftstellerkollegin Juli Zeh ein „geheimes Kanzlerpaar des Untergrunds“ zu bilden?

Das Drama der ersten Psychose beginnt mit einem digitalen Fake, wie überhaupt diese Krankheitsgeschichte in großen Zügen auch eine Mediengeschichte ist: Melle schreibt unter dem Namen der Protagonisten der Gegenwartsliteratur Beiträge im Internet. Es kommen Antworten, das Spiel verselbstständigt sich und wächst sich nach und nach zu einer messianischen Privatmythologie aus, die sich mit den Augenblicksfeiern des Pop verbindet.

Das Sausen der Ringe des Saturn

In seiner manischen Hochzeit entziffert Melle in allem an sich selbst adressierte Botschaften. Die Welt konzentriert sich auf ihn, Häuser bekommen Gesichter, Fensterläden winken linker Hand ihm zu. Die Großstadt Berlin verdichtet sich zu einem „Mob aus Zeichen und Bildern“. Was hier nüchtern und präzise beschrieben wird, ist ein flirrendes, expressionistisches Wahrnehmungsfieber. „Kurz war es geil, Messias zu sein“, das Sausen der Ringe des Saturns und Kadenzen der Sphärenmusik zu hören. Aber die Intensität lässt sich auf Dauer nicht aushalten, und die Kehrseite der panischen Euphorie ist die Depression.

Sie stellt sich ein, wenn das wahnhafte Beziehungsnetz zerfällt. Dann folgen Tage aus Milchglas, Wochen wie Irrgärten, und am Ende steht die erschütternde Erkenntnis, das eigene Ich verloren zu haben. In diesen Phasen erscheint die Sonne als „hämische Sau“. Zerstreuung findet der Verzweifelte einzig noch in Selbstmordforen. Mehrfach hängt sein Leben am dünnen Faden des in letzter Sekunde vereitelten Suizids: „Bipolarität ist eine Krankheit mit oftmals schwerem, tödlichem Verlauf.“ In drei großen Schüben erzählt Melle die Geschichte der Krankheit, die sein Leben ist. Analysierende Passagen, die ein versammeltes medizinisches, psychiatrisches und juristisches Wissen mit sich führen, wechseln mit erzählenden. Eingespielt werden Aufzeichnungen, Blogeinträge, Manifeste.

Mit genialem sprachlichen Einfühlungsvermögen macht der Selbstbeobachter verständlich, was sich der Verständlichkeit entzieht, etwa wenn er die Aufgabe von Botenstoffen mit der von Kellnern vergleicht. Im Wahn werden sie dieser Rolle überdrüssig: „Sie vermehren sich und planen den hysterischen Aufstand. Bald überschwemmen sie das Terrain, und werfen das Bestellte quer durch den Raum, an die Wände und in die Gesichter, ziehen das gesamte Etablissement auf links.“ In Teilen ist dieses Buch auch eine virtuose Einführung in den Wahnsinn, eine Art „Psychopathologie für Dummies“.

Das Ich als Katastrophe

Doch Melle analysiert nicht nur sich selbst, sondern auch die Milieus, in denen er verkehrt. Die literarischen Klüngel, die in Klagenfurt vor allem sich selbst feiern, während die Autoren „wie billige Nutten herumstehen“ und ihr rohes Fleisch feilbieten; oder Theaterkreise, in deren eigenen Wahnsinn sich der des verrückten Autors mischt. In diesen Passagen wird das Buch zum Gesellschaftsroman, und man ahnt die geheimen Verbindungen, über die der Maniker mit einer aus den Fugen geratenen Welt korrespondiert. „Ist das Wirtschaftssystem nicht ebenso manisch und irrational, wenn es fiebrig Schulden anhäuft und die Zukunft als Wette ansieht, man weiß nur nicht, worauf?“

„Die Welt im Rücken“ gibt den Blick auf den Leidensantrieb frei, der hinter großen Schöpfungen steht. Ohne das kreative Potenzial seiner Verrückung zu verklären, summiert Melle die kolossalen Kosten auf: Freunde, die sich irgendwann erschöpft abwenden, menschliche und materielle Verluste, die an den Rand der Obdachlosigkeit führen. „Ich war eine Katastrophe“. Mit was also hat man es hier zu tun? Für den Autor mag man das beantworten können: Selbstvergewisserung, Rechtfertigung, unheilabwehrendes Gebet. Aber für den Leser liegt die Eigenart dieses Buches gerade in dem Unermesslichen, was es von jeglicher Problembewältigungs- oder Betroffenheitsliteratur scheidet.

„Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein.“ So beginnen die „Bekenntnisse“ des französischen Aufklärers und hypochondrischen Einzelgängers Jean Jacques Rousseau, eine der großen literarischen Selbsterkundungen der Neuzeit. Man könnte diesen Satz als Motto über einen nicht unerheblichen Teil der aktuellen Literaturproduktion setzen. Denn sie wird bestimmt von Autoren, die sich darin ungeschützt in ihrer ganzen Naturwahrheit zeigen. „Die Welt im Rücken“ ist mithin Teil des aufregenden Emanzipationsprozesses, in dem sich die Knausgards, Maiers, Meyerhoffs, Stuckrad-Barres und viele andere auf unterschiedlichste Weise von dem Zwang befreien, für das, was sie wirklich umtreibt, einen fiktionalen Vorwand erfinden zu müssen. Ihre Stoffe sind sie selbst, nackt, krank und hinfällig.

Medium der Zeit

Gerade deshalb aber sollte man Melles so verstörendes wie großartiges Buch als das nehmen, was es ist: als Literatur und nicht als Krankenakte. Nicht als mitleidvoll Erregter, sondern als ästhetisch hochgradig Entflammter erweist man dem Autor die gebührende Ehre für die grenzenlosen Qualen, denen er sein Schreiben entrissen hat. Die Teilhabe an seinem Werk löst ein, was der universale Beziehungswahn ihm in den manischen Phasen nur trügerisch versprach: Medium zu sein für einige der wesentlichen Botschaften unserer Zeit.

Rowohlt Verlag. 352 Seiten, 19,95 Euro. Thomas Melle: Die Welt im Rücken.