Bundesinnenminister Thomas de Maizière warnt davor, beim Mindestlohn Ausnahmen für Flüchtlinge zuzulassen. Foto: Meike Boeschemeyer

Immer mehr Flüchtlinge drängen nach Deutschland. Schafft die Gesellschaft diese große Herausforderung? Unser Berliner Büroleiter Norbert Wallet hat mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière gesprochen.

Herr Minister, in der Bevölkerung scheint die erste Euphorie über die Flüchtlinge verflogen. Uns erreichen viele besorgte Leserbriefe. Manche mit sehr negativen Äußerungen. Bekommen Sie das auch mit?
Ja, selbstverständlich. Aber die Lage ist vielschichtiger als das durch solche Briefe vermittelte Bild. Vor Monaten hieß es noch überall, die Menschen seien politikmüde, die Politik sei langweilig und einschläfernd. Das Thema Asyl und Flüchtlinge hat das massiv geändert. Viele, die sich nun sehr negativ äußern, zum Teil auch mit übelsten Formulierungen, haben vielleicht vorher schon dasselbe gedacht. Daher wissen wir nicht, inwieweit von solchen Äußerungen wirklich auf eine Verschlechterung der Stimmung geschlossen werden kann oder ob nicht einfach schon vorher bestehende Vorbehalte ausgesprochen werden.
Aber es gibt auch ehrliche Sorgen in ganz bürgerlichen Kreisen.
Ja, das stimmt und hat mit den großen Zahlen auch zugenommen, auch bei den freiwilligen Helfern selbst. Die fragen sich: Wie lange können wir einen solch massiven Zustrom wie in den letzten Wochen noch durchhalten? Und ich weiß, dass sich inzwischen verständlicherweise auch eine gewisse Erschöpfung bei denen einstellt, die seit längerer Zeit im Krisenmodus arbeiten. Man kann nicht pausenlos mit seiner Energie im roten Bereich arbeiten. Da entsteht Frust.
Wie lange halten wir es als Gesellschaft aus, wenn täglich tausende neue Flüchtlinge zu uns kommen?
Es gibt irgendwo eine faktische Grenze der Aufnahmekapazität. Es ist ja derzeit schon schwer genug, allen Flüchtlingen ein Dach über den Kopf zu besorgen. Noch schaffen wir das. Aber dann müssen ja weitere Schritte folgen: kurze Verfahren, schnelle Entscheidungen, für die einen dann ein schnelles Verlassen des Landes, für die anderen eine schnelle Integration. Je größer die Zahl, desto schwieriger wird das. Es gibt deshalb nicht nur eine Grenze der Aufnahmefähigkeit hinsichtlich der Bettenkapazität, sondern auch im Hinblick auf Entscheidungs- und Integrationskapazität, und deswegen arbeiten wir mit Hochdruck an Lösungen, vor allem an den Außengrenzen der EU, mit den Transit- und in den Herkunftsländern.
Machen Sie sich die Analyse von Horst Seehofer zu Eigen, der gesagt hat, es sei das etwas gründlich aus den Fugen geraten? Man könnte hinzufügen, womöglich auch deshalb, weil die Kanzlerin unabsichtlich falsche Signale ausgesandt hat.
Nein. Die Ungarn-Entscheidung war richtig. Wir hätten sonst die gleiche Anzahl von Flüchtlingen nur ein paar Tage später bekommen, nur eben mit schrecklichen humanitären Problemen, insbesondere in Ungarn. Aber ich möchte daran erinnern, welche Begründung ich bei der Wiedereinführung der Grenzkontrollen gegeben habe: Obwohl ich die Entscheidung der Kanzlerin für richtig halte, habe ich gesagt, dass wir wieder Ordnung ins Verfahren bringen müssen, die wir bei solch großen Zahlen auch aus Sicherheitsgründen brauchen.
Ist das denn gelungen?
Bis zum Sommer haben sich die Flüchtlinge dankbar und freundlich an die Behörden gewandt, ließen sich registrieren, dann wurden sie verteilt, und dann begannen die Verfahren. Seit kurzem beobachten wir, dass viele Flüchtlinge das nicht mehr akzeptieren. Sie wollen sich entweder gar nicht registrieren lassen, oder nur dort, wo sie es für richtig halten. Sie wollen sich nicht verteilen lassen. Das geht nicht, und das ist im doppelten Sinne nicht „in Ordnung“. Es gibt kein Recht eines Flüchtlings, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Wir haben verabredet, dass wir die Lasten nach dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“ fair zwischen den Bundesländern aufteilen. Wenn wir die Verteilung den Flüchtlingen selbst überließen, wären einige Regionen besonders und andere gar nicht belastet. Das ist nicht hinnehmbar.
Haben Sie Befürchtungen, dass wir uns auch kriminelle Energie oder terroristische Gefahren ins Land holen?
Wir können das nicht ausschließen. Wir bekommen zum Teil auch Hinweise darauf. Jedem gehen wir nach. Deshalb ist die Feststellung der Identität so wichtig. Wir führen auch Befragungen durch. Es gibt auch unter den Flüchtlingen Verdächtigungen. Auch denen gehen wir nach. Es gibt auch Ermittlungsverfahren. Aber bislang gibt es keine Bestätigung für eine solche Art der Bedrohung. Aber wir müssen wachsam bleiben und das tun wir auch.
Viele Menschen verstehen vor allem einen Sachverhalt nicht: Warum nehmen wir Flüchtlinge auf, die wir rechtmäßig abweisen könnten, weil sie offenkundig aus einem sicheren Drittstaat kommen?
Die EU-Staaten hatten in Dublin vereinbart und einen entsprechenden Rechtsrahmen beschlossen, dass das Asylverfahren in der Regel dort durchzuführen ist, wo der Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betritt. Das ist derzeit meistens Griechenland. Nach den Dublin-Regeln besteht die Möglichkeit, die Asylbewerber – nach einem Verfahren – dorthin zurückzuschicken. Dazu müssen aber Identität und Reiseweg geprüft und mit dem betroffenen Land die Rücknahme vereinbart werden. Das geht nicht einfach so an der Grenze. Hinzu kommt: Weil in Griechenland viele Flüchtlinge nicht gut behandelt worden sind, haben die Gerichte uns auferlegt, keine Dublin-Fälle nach Griechenland zurückzuschicken. Das ist sehr ärgerlich, denn viel Geld ist nach Griechenland gegangen, um die Zustände bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu verbessern. Auch für Ungarn gibt es ähnliche Gerichtsentscheidungen. Für Kroatien und Slowenien ist das anders. Da müssen wir in der Tat prüfen, ob man eine Rückführung dorthin wieder vermehrt durchführt.
Was viele irritiert: Wenn von Gewaltanwendungen in Aufnahme-Einrichtungen die Rede ist, rückt zum Beispiel die ethnische Gruppe der Albaner ins Blickfeld. Die werden sicher nicht politisch verfolgt. Warum sind diese Menschen überhaupt noch hier?
Wir haben in der vergangenen Woche mit dem von mir vorgelegten Gesetzespaket energische Maßnahmen ergriffen, die das Ziel haben, den Zustrom, gerade aus den Balkanstaaten wie Albanien, zu stoppen. Vielen von dort war klar, dass sie hier keine Bleibechance haben. Aber sie haben es dennoch versucht. Und unsere Verfahren waren so lang, dass die Zwischenzeit für sie attraktiver war als ihre Situation zu Hause. Wir sorgen dafür, dass das aufhört: Zum Beispiel das Taschengeld, immerhin 143 Euro pro Monat, hat einen Sogeffekt ausgelöst. Stattdessen gibt es nun möglichst Sachleistungen. Wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt, bekommt ein Beschäftigungsverbot. Und die Asylbewerber aus diesen Ländern werden verpflichtet, in den Erstaufnahme-Einrichtungen zu bleiben, bis ihr Verfahren abgeschlossen ist. Dann können sie auch leichter abgeschoben werden. Und: Denen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind und die Ausreisefrist verstreichen lassen, wird die Leistung auf null gesetzt. Unser Gesetzespaket sieht auch vor, dass die Abschiebungen nicht mehr vorher angekündigt werden sollen, damit sich niemand vorab entziehen kann.
Wie viele Menschen sind eigentlich rechtmäßig abschiebbar und leben dennoch hier?
Gut 190 000 Menschen sind ausreisepflichtig, aber 138 000 haben den Status einer Duldung. Also gut 52 000 müssten ohne Wenn und Aber gehen. Ich erkenne, dass sich die Bundesländer mehr Mühe geben, die Abschiebungen auch durchzusetzen. Wir haben im ersten Halbjahr 2015 bereits knapp doppelt so viele Abschiebungen wie im gesamten vergangenen Jahr. Auch wenn das im Einzelfall harte Entscheidungen sein mögen: Wir kommen nicht daran vorbei.
Wirkt es nicht gewaltfördernd, wenn die Bewerber aus sicheren Drittstaaten nun bis zum Abschluss ihrer Verfahren in den Erstaufnahme-Einrichtungen bleiben müssen?
Ja, aber was folgt daraus? Es gibt keine heile Welt. Wenn wir alle, auch die aus sicheren Herkunftsländern, sofort dezentral verteilen, dann können wir die Verfahren nicht beschleunigen und bekommen diese Menschen nicht mehr abgeschoben. Die Zeit, für diese Personengruppe in den zentralen Einrichtungen ist sicher nicht sehr gemütlich. Das muss man in Kauf nehmen. Ich kann nachvollziehen, dass junge Männer, die Langeweile haben, irgendwann auf dumme Gedanken kommen. Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn Menschen, denen wir mit viel Aufwand und Einsatz Schutz gewähren, selbst aggressiv werden, ihre internationalen Konflikte auf unserem Boden fortsetzen oder Helfern gegenüber gewalttätig werden – das ist nicht in Ordnung, dem muss man hart entgegentreten. Natürlich ist das eine Minderheit. Wir beobachten auch sehr genau, ob es rund um Asylbewerber-Einrichtungen zu einem Anstieg der Kriminalität kommt. Im Einzelfall gibt es das, aber entgegen aller Gerüchte überhaupt nicht im großen Stil. Aber Gewalt in Erstaufnahme-Einrichtungen, gar gegen Helfer, ist genauso inakzeptabel wie Pöbeleien oder Gewalt von Deutschen gegen diejenigen, die bei uns um Schutz nachsuchen.
Der baden-württembergische Innenminister will die Polizei entlasten, um für das Thema Flüchtlinge mehr Ressourcen zu haben. Mancher Bürger hat Sorge, dass die alltägliche Sicherheit darunter leiden könnte, dass die Alltagsarbeit der Polizei liegenbleiben muss.
Die Sorge verstehe ich. Eine Antwort darauf ist, dass etwa die Bundespolizei 3000 zusätzliche Stellen bekommen hat. Aber es gehört auch zum normalen Polizeialltag, Prioritäten zu setzen. Dabei werden zwangsläufig auch Aufgaben liegen bleiben. Ein Polizist, der an einer Massen-Blitzaktion teilnimmt, kann natürlich nicht gleichzeitig etwas anderes machen. Wenn er gegen einen gewalttätigen Hooligan vorgeht, kann er nicht gleichzeitig einen Einbrecher fangen. Aber: Das gesellschaftliche Klima wird insgesamt rauer. Die Hemmschwelle bei Anwendung von Gewalt, aber auch schon in der Benutzung der Sprache, sinkt. Respektlosigkeiten gegenüber Polizisten und Rettungskräften nehmen zu. Das ist ein Problem des Anstands der Zivilgesellschaft. Wenn Polizisten angegangen werden, die ihre Pflicht tun, ist das nicht in Ordnung. Und auch nicht, wenn THW-Helfer angegangen werden, weil sie ein Bett für Flüchtlinge aufstellen. Das ist in der letzten Zeit eingerissen. Wir müssen wieder dahin kommen, dass wir zivilisiert, höflich und human miteinander umgehen.
Noch eine baden-württembergische Debatte: Ministerpräsident Kretschmann findet Bußgelder für den Leerstand von Wohnungen für angemessen. Mancher Eigentümer hat im Zusammenhang mit der Unterbringung von Flüchtlingen Angst vor Zwangsbeschlagnahmungen. Das schafft Unruhe.
Auch hier gilt: Gegebenenfalls müssen wir auch unangenehme Entscheidungen treffen. Entweder die Flüchtlinge bleiben den Winter über in Zelten oder wir finden oder bauen feste Unterkünfte. Wenn die nicht verfügbar sind, muss man versuchen, sie zu bekommen. Ausdrücklich möchte ich kein einziges Land und keinen Bürgermeister oder Landrat kritisieren, wenn er versucht, menschenwürdige Unterkünfte zu besorgen. Es ist immer leicht zu fordern, dass alles so geschehen muss, dass man selbst davon nicht betroffen ist. Kein Bürgermeister belegt gerne eine Turnhalle und lässt den Schulsport damit ausfallen. Aber wenn es nötig ist, muss man das unterstützen und nicht kritisieren.
Steht uns durch die Ereignisse in Afghanistan eine Flüchtlingswelle bevor?
Afghanistan gehört seit längerem zu den am meisten vertretenen Herkunftsländern. Das ärgert mich wirklich, schließlich sind wir seit mehr als zehn Jahren mit Soldaten und Polizisten dort, um das Land zu stabilisieren. Wir haben mit dafür gesorgt, dass Wahlen stattfinden, wir haben für Bildungschancen gesorgt. Natürlich müssen wir uns um diejenigen großzügig kümmern, die deswegen gefährdet sind, weil sie in dieser Zeit aktiv für uns gearbeitet haben, etwa als Dolmetscher für Soldaten oder Polizisten. Diese Menschen sollten wir großzügig zu uns holen und nicht erst auf eine gefährliche Reise schicken, wo sie der Willkür von Schleusern ausgesetzt sind. Aber dass jetzt viele Menschen zu uns kommen, die dort dringend gebraucht werden, um das Land wieder aufzubauen, die auch gar nicht aus Taliban-Gegenden kommen, sondern aus Kabul, einfach weil sie das Vertrauen in das Land verloren haben – das ist nicht in Ordnung. Deshalb werden die Anträge von Asylbewerbern aus Afghanistan genau geprüft.. Gerade den jungen Menschen muss man sagen: Bleibt in Afghanistan, baut dort Eure Zukunft auf. Dabei helfen wir, aber kommt nicht zu uns!
Hätten Sie Verständnis, wenn Bayern seine Drohung wahr machte und seine Grenzen im Alleingang dicht machte?
Zunächst möchte ich die Bayern loben. Das Land trägt die Hauptlast. Was bayerische Beamte, Landräte, Bürgermeister und Ehrenamtliche leisten – oft in kleinen Orten – das ist einfach gigantisch. Jeden Tag kämpfen der Bund und Bayern zusammen dafür, dass die neu Ankommenden fair auf die Bundesländer verteilt werden – und dabei bleiben täglich viele in Bayern, die nach den reinen Zahlen eigentlich nicht dort bleiben müssten. Irgendwie schaffen die Bayern es, ihnen trotzdem ein Dach über dem Kopf zu besorgen. Ich verstehe also, wenn Bayern eine gerechte Lastenverteilung zwischen den Bundesländern anmahnt. So sehe ich die von Horst Seehofer geäußerten Sorgen. Für eine Grenzschließung zu Österreich ist Bayern aber nicht zuständig.
Es gibt eine aktuelle Debatte über eine Ausnahmeregelung beim Mindestlohn für Flüchtlinge. Was halten Sie davon?
Nicht viel. Das würde nur zu neuen Verteilungsdebatten führen zischen denen, die jetzt im Mindestlohn arbeiten und den Flüchtlingen. Wollen wir wirklich Debatten nach dem Muster: Ich, der ich gerade Mindestlohn bekomme, werde jetzt entlassen, damit ein Flüchtling meine Arbeit billiger macht? Das sollten wir lassen.
Muss man den Bürgern nicht deutlich sagen, dass wir alle langfristig lernen müssen, mit mehr Fremdheit zu leben?
Über Jahrzehnte hatten wir die Tatsache verdrängt, dass hier Gastarbeiter auf Dauer leben. Inzwischen haben wir aber gelernt, damit umzugehen. Der Wohlstand Baden-Württembergs beruht unter anderem genau darauf. Wir mussten bitter lernen, dass man mit Integrationsmaßnahmen am besten ganz frühzeitig beginnt. Jetzt sollten wir es bei denen, die bleiben werden, von Anfang an richtig machen. Dazu gehören Sprachangebote, Arbeit und das Vermeiden von Vierteln, in denen ausschließlich Zuwanderer wohnen. Es geht nicht von selbst. Es kommen nicht nur Hochqualifizierte, sondern auch Analphabeten. Eins müssen wir alle begreifen: Die Welt ist zusammengerückt, Globalisierung geschieht nicht nur im Internet. Wir leben von diesem Austausch. Gäbe es nur den deutschen Markt, gingen große baden-württembergische Firmen sofort Pleite. Wir können uns nicht immer nur die schöne Seite der globalisierten Welt aussuchen. Wir nehmen an allem teil: an Handel und Wohlstand – aber auch an den Folgen von Krisen. Deshalb liegt es im nationalen Interesse Deutschlands, sich auch massiv an der Bewältigung von internationalen Konflikten zu beteiligen. Wenn wir das versäumen, kommen die Opfer der Krisen zu uns.
Ist ein Erstarken populistischer Parteienangesichts der aktuellen Debatten unausweichlich?
Die Versuchung ist sicher groß. Wir müssen dem entgegen wirken. In einer solchen Situation ist eine große Koalition hilfreich. Es wäre ganz falsch, denen von Rechtsaußen jetzt nach dem Mund zu reden. Damit macht man sie nur stark. Aber die Sorgen der Menschen müssen wir ernst nehmen. Die Bürger wissen, dass die Lage ziemlich schwierig ist und nicht mit einer Hauruck-Aktion gelöst werden kann. Wir brauchen Geduld. Aber genau deshalb denke ich, dass das Vertrauen in die Parteien, die das Land im Wechsel über Jahrzehnte ganz gut regiert haben, gerade wegen der schwierigen Situation höher ist als das Zutrauen zu den Sprücheklopfern.