In der Nachkriegszeit wohnten Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp (rechts) einige Jahre in diesem Haus an der Löwenstraße. Foto: Tilman Baur

Der erste Bundespräsident Theodor Heuss und seine Gattin Elly Heuss-Knapp haben in der Nachkriegszeit in Stuttgart-Degerloch gewohnt. Auch nachdem das Paar nach Bonn gewechselt ist, blieb der Kontakt zur Löwenstraße bestehen. Anwohner erinnern sich.

Degerloch - Als der künftige Bundespräsident Theodor Heuss davonfuhr, stand die Löwenstraße für ihn Spalier. Anwohner säumten den Bürgersteig und wedelten mit Fähnchen in der Hand. „Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er in so einem dunkelblauen Kastenwagen abgeholt“, sagt Brigitte Dier.

Die heute 76-jährige war acht Jahre alt und ging noch zur Grundschule, als der sogenannte „Kultminister“ des damaligen Landes Württemberg-Baden und seine Frau Elly Heuss-Knapp – nach der neuerdings das Haus der Kirche am Agnes-Kneher-Platz benannt ist – die Landeshauptstadt Richtung Rhein verließen. In Bonn wartete das höchste Staatsamt der Republik auf Heuss: Er wurde der erste Bundespräsident Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.

Von staatsmännischem Tamtam war die Zeit des Ehepaars in Degerloch aber nicht geprägt. Die kleine Parade zum Abschied blieb da eine Ausnahme. Von 1945 bis 1949 lebten sie im Erdgeschoss des Hauses an der Löwenstraße 86, zusammen mit Heuss‘ Bruder und seiner Schwägerin. Hätten die Eltern nicht eine Konditorei im Haus schräg gegenüber betrieben, so hätte Brigitte Dier vermutlich nicht einmal erfahren, dass der Politiker in Degerloch wohnt. „Mein Vater kam aus der Kriegsgefangenschaft zurück und hat sich das aufgebaut. Eigentlich war es der Garten meiner Großmutter, in dem man dann einen Anbau gemacht hat. Die Backstube war im Keller“, so Dier. Heute vermietet sie den Raum an Studenten.

Meist kam Elly Heuss-Knapp rüber

Regelmäßig kam jemand aus dem Heuss-Haus über die Straße und deckte sich in der Konditorei ein. Meist sei es Elly Heuss-Knapp gewesen, sagt Brigitte Dier, oder die Sekretärin von Heuss. „Ob sie jeden Morgen gekommen sind, kann ich gar nicht sagen – ich bin ja schließlich zur Schule gegangen“, erzählt Dier. Gesprochen habe sie mit Heuss selbst nie. Als Prominenz habe man die Nachbarn nicht empfunden, nach dem Krieg habe man andere Sorgen gehabt. Der Kontakt brach auch nach dem Wegzug der Heussens nicht ab. „Es kam dann regelmäßig eine Bestellung der Sekretärin aus Bonn“, erinnert sich Brigitte Dier. Weihnachtsgebäck oder Rührkuchen bestellte das Präsidentenpaar, das immer wieder Dankesschreiben für das Gebäck nach Degerloch schicken ließ.

Der Kontakt blieb bestehen

Es war aber nicht nur die Aussicht auf guten Kuchen, die Theodor Heuss veranlasste, Kontakt mit den Nachbarn zu suchen – sondern Lärmbelästigung. Ein junger Mann namens Immanuel Häcker hatte den Degerlocher Posaunenchor nach dem Krieg wieder zum Leben erweckt und nutzte das Lesezimmer des nebenan gelegenen evangelischen Gemeindehauses zum Proben. In einem Band anlässlich des 100-jährigen Chorjubiläums beschrieb Häcker 1989 seine erste Begegnung mit Heuss. „An einem Dienstagnachmittag – wir waren gerade mit Blasübungen beschäftigt – wurde die Tür zum Lesezimmer geöffnet und ein älterer Herr mit riesiger Zigarre trat ein und fragte nach dem Verantwortlichen. Ich stellte mich vor – er sagte mit sonorer Stimme: ‚Mein Name ist Theodor Heuss. Ich wohne gegenüber in der Löwenstraße. Seit einigen Tagen bin ich Kultminister unseres Landes. Gegenwärtig schreibe ich ein Buch über ein politisches Thema. Sie können sich sicher vorstellen, dass diese greuliche ‚Musik’ nicht gerade stimulierend auf mich wirkt. Ich schlage Ihnen deshalb vor, mit den Buben einfach in den Wald zu gehen oder wenigstens in den anderen Flügel des Gemeindehauses.‘“

Im Wald übten die Posaunenschüler nicht

In den Wald ging Häcker nicht mit seinen Schülern. Und wenn man im anderen Flügel übe, störe man auch Leute. So handelte er einen Kompromiss aus: Dienstags blieb man im Lesezimmer, donnerstags zog man zum Üben in den anderen Flügel des Gemeindehauses. Die Reaktion von Heuss beschreibt Häcker so: „Damit bin ich einverstanden, ich werde dann dienstags einfach abschalten oder in den Wald gehen. Sehen Sie, das ist Demokratie.“

Der erst 23-jährige Häcker hatte bis 1949 den Chor wiederaufgebaut und übergab ihn an seinen eigentlichen Leiter Fritz Klein, der aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Als die Bronzeplakette von Markus Wolf im Jahr 2002 ans ehemalige Wohnhaus der Familie Heuss angebracht wurde, dirigierte Häcker den Chor ein letztes Mal selbst: Aus dem besonderen Anlass stimmte er die inoffizielle Hymne Württembergs an, „Preisend mit viel schönen Reden“.