Foto: Gaby Weiß

Ihre Produktionen darf die Theaterspinnerei Frickenhausen derzeit im Saal nicht zeigen. Doch Not macht erfinderisch: Mit einer „Chaise Culturelle“ bietet Intendant Jens Nüßle ein coronakonformes Hörspiel-Erlebnis für Zwei.

Frickenhausen - Corona setzt auch den Machern der Theaterspinnerei in Frickenhausen zu: Das Spiel vor Publikum in geschlossenen Räumen ist untersagt, die letzte reguläre Produktion im Saal musste Pandemie-bedingt ebenso abgesetzt werden wie der eigens entwickelte Audio-Spaziergang unter freiem Himmel, der großen Anklang gefunden hatte. Weil das Team des kleinen privaten Theaters jedoch nicht tatenlos zusehen möchte, wie sein Lebenstraum vom Virus und seinen Folgen schachmatt gesetzt wird, haben die engagierten Theaterleute nun ein neues, „inzidenz-unabhängiges“ Format entwickelt: Zwei Personen aus einem Haushalt nehmen in der „Chaise Culturelle“ Platz und lassen sich vom Intendanten Jens Nüßle höchstpersönlich in dieser Fahrrad-Rikscha kutschieren – die idyllische Landschaft vor Augen, über Funk-Kopfhörer das musikalisch-literarische Hörspiel „Himmel über Hölderlin“ im Ohr.

 

Den Nerv des Publikums getroffen

Die ersten Tickets für das innovative Konzept waren innerhalb von 48 Stunden ausverkauft – so ausgehungert sind die Menschen, Kultur endlich mal wieder live und real genießen zu können. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass das so den Nerv unseres Publikums trifft“, freut sich Jens Nüßle. Aufgrund der enormen Nachfrage hat er mittlerweile nicht nur weitere Aufführungstermine organisiert, sondern auch zwei weitere Rikschas direkt in China geordert. Wurde der Dichter Friedrich Hölderlin in einer kleinen Kutsche einst von Pferden durch die Lande gezogen, sitzt in Frickenhausen nun der Theatermacher Jens Nüßle hinter dem Lenker der Rikscha, die mit elektronischer Unterstützung als Pedelec unterwegs ist. Immerhin wiegt das Gefährt samt Fahrer und zwei Gästen um die 350 Kilogramm, die auf den Wegen rund um Linsenhofen bewegt werden müssen.

Die Sicherheit der Mitfahrenden und die der Lenker steht über allem: Die Kutsche wird vor jeder Fahrt desinfiziert, der Fahrer trägt Maske und ist durch eine Plexiglasscheibe vom Publikums-Duo getrennt. Ein Dach schützt vor zu viel Sonne und vor leichteren Regenschauern. Das Format ist auch für all jene geeignet, die nicht so gut zu Fuß sind. Wer lädierte Bandscheiben hat, sollte aber ein wenig vorsichtig sein: „Die Rikscha ist gut gefedert, und wir haben extra bequeme Sitzkissen besorgt, aber es ruckelt und schaukelt während der Fahrt durch die Natur natürlich ein bisschen“, warnt Nüßle.

Fahrrad-Kutsche kommt aus China

Im vergangenen Sommer hatte das Team der Theaterspinnerei innerhalb kürzester Zeit das coronakonforme Konzept für „Himmel über Hölderlin“ entwickelt. Bis in den November hinein durfte das Publikum zum gut zweistündigen Audio-Spaziergang durch die idyllische Landschaft des Neuffener Tals eingeladen werden: Im Freien wurde auf Abstand mit Funk-Kopfhörern gewandert, an sechs Spiel-Stationen übernahmen die Schauspieler live.

Schon damals hatte Jens Nüßle die Idee, Menschen, die nicht so lange spazieren wollen oder können, mit einer Rikscha mitfahren zu lassen. Als dann der dritte Lockdown auf den zweiten folgte, orderte Jens Nüßle eine erste Fahrrad-Kutsche direkt in China und begann mit seinen Mitstreitern, den Audio-Spaziergang mit Texten, Gedichten, eigens komponierter Musik, mit Ton und Klang zu einem Hörspiel umzuarbeiten. Die Schauspiel-Szenen wurden eingesprochen, die Dramaturgie bleibt erhalten und bringt dem Hörer den Dichter Friedrich Hölderlin, seine Gedanken und seine Leidenschaft nahe. Im Mai wird das Hörspiel dann auch als eigenständiges Hörbuch erscheinen.

Die „Theaterspinner“ würden ihrem selbst gewählten Namen nicht gerecht, wenn sie diese Hörspiel-Idee nicht schon jetzt weiterspinnen würden: „Ich könnte doch auch eine Dichter-Tour mit Mörike-Texten oder mit schwäbischen Geschichten machen. Und ich biete an, die Rikscha auf meinen Anhänger aufzuladen, die Leute zuhause abzuholen und dann dort zum Beispiel von Nürtingen nach Tübingen entlang des Neckars oder über den Schurwald zu fahren“, lässt Jens Nüßle seiner Fantasie freien Lauf, „und ich könnte mir auch gut vorstellen, im Winter mit Heizdecke und Glühwein eine Tour anzubieten.“ Sobald das Rikscha-Trio komplett ist, kann das Team im Konvoi mit sechs Theater-Gästen fahren: „Der Funk-Sender ist in die erste Rikscha eingebaut, hat eine Reichweite von 300 Metern und hat beim Spaziergang ja sogar mit 80 Kopfhörern bestens funktioniert“, betont Jens Nüßle. Nicht umsonst hat sich die Theaterspinnerei „multimediales Theater“ auf die Fahnen geschrieben.

Wir lassen uns nicht unterkriegen

Die aktuelle Situation sorgt bei Jens Nüßle, dem Gründer der Theaterspinnerei, für Sorgenfalten: „Ich weiß nicht, ob wir dieses Jahr tatsächlich noch irgendwann regulär Theater vor Publikum spielen können. Aber wir wollen uns nicht unterkriegen lassen. Deshalb riskieren wir das und investieren. Und wenn wir als kleines Theater uns neu erfinden müssen, dann sind wir flexibler und wendiger als so ein Riesen-Dampfer wie ein Staatstheater.“

Treffpunkt für die Hörspielfahrt „Himmel über Hölderlin“ ist am Sportgelände des TSV Linsenhofen. Die Fahrt in der „Chaise Culturelle“ entlang der etwa zwölf Kilometer langen Strecke dauert rund eineinhalb Stunden. Die Tour kostet 110 Euro pro Fahrt für zwei Personen, ein Piccolo ist inklusive. Informationen und Tickets gibt es telefonisch unter der Rufnummer 0 70 22/ 24 35 600 oder online unter www.theaterspinnerei.de. Es werden immer wieder neue Termine eingestellt.