Eine Szene aus „Antigone“ – die Möhre ist das verbindende Element in dem Stück. Foto: Screenshot Filmprojekt Anim-Art

Die Theatergruppe Anim-Art des Rudolf-Sophien-Stifts bringt Menschen zusammen, deren Psyche „ins Wanken“ geraten ist. Sie hat während des ersten Lockdowns online geprobt. Daraus ist ein Film entstanden, der demnächst Premiere feiert – auch das digital.

Stuttgart - Eine Frau geht langsamen Schrittes durch Wohnstraßen in Stuttgart. Sie trägt ein ärmelloses Oberteil, es ist ein warmer Tag. Man sieht sie von hinten, ein Einkaufsnetz mit Karotten in der rechten Hand. „Es war einmal“, hört man eine Stimme aus dem Off sagen, während die Frau ihren Weg nimmt – „es war einmal, denn so fangen alle spannenden Geschichten an.“ Die Stimme führt einen, wie die Frau im Bild, hinein in diese Geschichte, die ursprünglich einmal auf ganz andere Weise erzählt werden sollte.

Dass sie sich mit dem historischen Stoff „Antigone“ auseinandersetzen wollten, das habe länger festgestanden, berichtet die Projektleiterin der Theatergruppe Anim-Art, Anna Drescher, im Gespräch per Videokonferenz. Aber dass die Inszenierung zu einem Film werden würde, das war nicht geplant. „Richtig falsch – Ein 9-Stationen-Karotten-Film nach ‚Antigone‘“ lautet der Titel. Eigentlich wollten sie auch diesmal wieder auf die Bretter, die die Welt bedeuten, das Lampenfieber überwinden. Wie 2019, als Anim-Art im Sommer im Theaterhaus „Murmel, Murmel, Murmeltiere – Die Verschollenen“ aufgeführt hatte. Und als der Applaus den Laienschauspielern so gut getan hatte. Für ihn sei es zuvor „ein No-Go“ gewesen, „in der Öffentlichkeit aufzutreten“, erinnert sich zum Beispiel Manfred, ein Mitglied. „Es hat mir unglaublich viel bedeutet.“

Die Gruppe ist keine Therapie

Anim-Art ist eine besondere Theatergruppe. Die Mitglieder teilen die gemeinsame „Erfahrung, wenn die psychische Gesundheit ins Wanken gerät“, wie es Anna Drescher ausdrückt. Die Gruppe ist „keine Therapie“, betont sie, das Künstlerische stehe immer im Vordergrund. Aber „für alle aus der Gruppe ist der Zusammenhalt gut“, sagt die Regisseurin. Und was ist in dieser Krise wichtiger, als einen Halt zu haben?

So standen sie im Frühjahr, während des ersten Lockdowns, vor dem Dilemma: Es war klar, dass sie sich nicht mehr wie zuvor einmal die Woche im Rudolf-Sophien-Stift für die Proben treffen konnten. Aber deshalb aufhören und pausieren? Ebenfalls unmöglich. Also verlegten sie die Treffen in den virtuellen Probenraum Zoom.

Historischer Stoff passt zur aktuellen Situation

Und je mehr sie sich mit dem historischen Stoff auseinandersetzten, desto mehr merkten sie, wie gut er zur heutigen Situation passt. „Ist die Entscheidung von oben richtig oder nicht?“, diese Frage, die der Dichter Sophokles in der Tragödie aufwirft, die hätten sie sehr aktuell gefunden, sagt Anna Drescher. Die filmische Inszenierung, gefördert von der Corona-Soforthilfe unserer Zeitung, dem Rudolf-Sophien-Stift und der Aktion Mensch, ist aber auch von der Machart her Zeugnis dieser Zeit, in der die soziale Isolation das Gebot der Stunde ist.

Die Sequenzen wurden von den Schauspielern zum Großteil selbst per Handykamera aufgenommen – an ihnen vertrauten Orten. Da fläzt „Antigone“, den Controller einer Spielkonsole in der Hand, telefonierend im Bett, da sitzt „Kreon“ im Arbeitszimmer tippend vor dem Computer, der „Chor“ (von einer Person verkörpert) gibt Weisheiten auf dem Hoppenlaufriedhof von sich und „Ismene“ (von einem Mann gespielt) bewegt sich durch einen üppigen Garten. Von „Hämon“, Kreons Sohn, sieht man nur die Hände, die Karteikarten an den Vater schreiben („Du befiehlst einen Mord!“). Eine Teilnehmerin, Sabine, hat ihren Monolog in Südtirol aufgenommen. Sie sitzt darin mit Hut draußen auf dem Balkon. Auch sie ist allein. Das Filmen nur für sich sei eine Herausforderung gewesen, erzählt die Rentnerin.

Mit erster Gruppe auf der Documenta

Sabine hält in ihrer Szene eine Karotte in der Hand. Möhren tauchen in dem Stück – passend zum Filmtitel – immer wieder auf, in jeglicher Form, zum Teil effektvoll eingesetzt, von der Ernte bis zur Saat. Sie brauchten ein verbindendes Element und ein Augenzwinkern sollte auch dabei sein, erklärt die Dramaturgin Katrin Spira. Mit ihr hat Anna Drescher schon beim ersten Stück zusammengearbeitet. Sie hat die Filmaufnahme mitgeleitet und das Script geschrieben.

Anna Drescher wiederum hat schon vor Jahren während ihres Studiums eine Psychiatrie-Theatergruppe in Hannover geleitet. Mit ihr war sie sogar auf der Documenta in Kassel aufgetreten. Als sie mit ihrer Idee 2014 auf Jürgen Armbruster, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Evangelischen Gesellschaft und Geschäftsführer des Rudolf-Sophien-Stifts, zugekommen war, solch eine Gruppe auch in Stuttgart anzubieten, war der sofort begeistert – und ist es bis heute. Das Projekt fördere künstlerische Fähigkeiten und zeige, wie viel Potenzial in den Einzelnen stecke, sagt Armbruster.

Befreiend, nicht über die Diagnose definiert zu werden

Die Diagnosen selbst spielen in der Gruppe keine Rolle. Keiner weiß von dem anderen, was er hat oder hatte. Sie wolle das auch gar nicht wissen, betont Anna Drescher, sie sähen nur den Menschen. Es könne sich aber auch niemand hinter einer Diagnose verstecken. Sabine, sie ist Mitte 60, findet es „sehr befreiend, nicht reduziert zu werden auf die Krankheit“.

Anim-Art trifft sich weiterhin einmal die Woche, es geht schon ums nächste Projekt. Wobei im zweiten Lockdown weniger aus der Gruppe aktiv dabei sind als im ersten Lockdown. „Gerade ist es sehr schwer, die Leute zu motivierten, man kann sich leicht zu Hause verstecken“, sagt Drescher. Oft seien sie zu viert oder fünft. Sabine, die ursprünglich von sich gedacht hatte, sie eigne sich gar nicht fürs Theater, lässt keine Probe ausfallen. Sie gibt auf sich acht, ihre Krankheit kann dazu führen, dass sie „nur dahindämmert“, deshalb steuert sie mit Terminen gegen, was wegen Corona nicht mehr ganz einfach ist. „Die Theatergruppe ist für mich der absolute Höhepunkt der Woche.“

Premiere über Zoom

„Richtig falsch – Ein 9-Stationen-Karotten-Film nach ‚Antigone‘“ feiert am Dienstag, 23. Februar, um 20 Uhr Premiere – und zwar per Videokonferenz über Zoom. Im Anschluss an den etwa 30 Minuten langen Film gibt es eine Diskussion unter anderen mit Anna Drescher und Katrin Spira, an der sich die Zuschauerinnen und Zuschauer beteiligen können. Eine Anmeldung ist nicht nötig.

Interessierte können dem Zoom-Meeting beitreten unter der Meeting-ID: 963 1956 0009 / Kenncode: 834727. Nach der Premiere ist der Film auch als Youtube-Video über die Internetseite des Rudolf-Sophien-Stifts abrufbar unter www.rrss.de.