Dunkle Romantik: Szene aus Achim Freyers bildmächtiger Inszenierung von E.T.A. Hoffmanns „Der goldne“ Topf im Schauspielhaus Stuttgart Foto: Monika Rittershaus

Wie der Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer aus dem Märchen und Schulstoff „Der goldene Topf“ von E.T.A. Hoffmann ein Gesamtkunstwerk macht und dabei jeglichen Romantik-Kitsch vermeidet – ein Ereignis!

Stuttgart - Mit Sehgewohnheiten zu brechen, das versprechen viele Regisseure. Am Ende sieht man meistens doch nur einen Tisch und Stühle, ein bisschen Video und Bling-Bling, und im besten Falle gutes Schauspielertheater. Man weiß aber stets, was gerade passiert und wohin man schauen soll.

Bei Achim Freyer ist nichts mehr klar. Seine Inszenierung von E. T. A. Hoffmanns Märchen „Der goldne Topf“ ist wie ein Blick in ein unscharfes Kaleidoskop. Man verliert die Orientierung. Wo ist oben, wo unten? Wer spricht? Wer singt? Wer musiziert? Von den Größenverhältnissen zu schweigen: Winzlinge und Riesen springen umher, Figuren mit Janusköpfen, Fabelwesen mit wulstigen Hüften, ellenlangen Fingern, dazu Glitterkleidladys. Die Schwerkraft scheint außer Dienst zu sein, Puppen fliegen im Kampf durch die Lüfte, mal hüpft ein künstlicher Frosch über die Bühne und zerplatzt, mal jagt ein echter Hund einer Wurst nach.

Auf den Wumms folgt die Stille

Und vorne, an der Rampe, sitzt als kleine schwarz gekleidete Marionette: Anselmus. Der sieht, was nun auch der Zuschauer zu sehen bekommt. Die Aufführung am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart bietet einen Einblick ins Bewusstsein des Helden. Scheinbar verzerrt, erstaunt, verwundert ist seine Sicht auf die Welt. Unheimliche, hypnotische Trugbilder mit Sogwirkung.

All das geschieht, nachdem mit einem Wumms goldene ballrunde Äpfel vom Bühnenhimmel prasseln und danach erst einmal unheilvolle Stille herrscht. So beginnt die Chose: Anselmus rennt „geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot“, worauf sie ihm prophezeit: „Ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!“ Student Anselmus in E. T. A. Hoffmanns Werk aus dem Jahr 1814 entdeckt alsbald in einem Holunderbusch allerliebst säuselnde goldgrüne Schlänglein mit Kristallstimmen sich winden – und verliebt sich in eine, Serpentina. Doch auch Veronika, Tochter des Konrektors Paulmann, findet er reizend. Bei einem mysteriösen Archivarius Lindhorst, der ihm Schreibarbeiten gibt und Geschichten über ein Reich namens Atlantis erzählt, begegnen ihm die Schlänglein wieder. Wofür wird sich Anselmus entscheiden, für welche Art Liebe und Leben?

Kein Freund der Schablonen

Der 85 Jahre alte Regisseur, Kostüm- und Bühnenbildner Achim Freyer, der schon in den 1970ern in Stuttgart inszenierte, ist gar kein Freund von Gut-böse-Schablonen. Klare Zuschreibungen – hier die spießigen Bürger, dort die romantischen Kunstsinnigen? Von wegen. Hier mäandern alle reichlich wunderlich durch die Welt.

Lediglich als Veronika davon träumt, als Frau Hofrätin zum Kaffeeklatsch einzuladen, wird Freyer deutlich: Er kommentiert die Szene mit Projektionen kitschiger „Cinderella“-Disneyfilm-Cartoons. Und er inszeniert eine Spießerhochzeit als Totentanz mit schwarz gewandeten Figuren und weißen Tüllschleier-Bräuten. Das düstere Schlussbild indes suggeriert, dass weder die reale Welt noch das Reich Atlantis voller Glück und Sonnenschein sein werden.

Anselmus selbst? Ist jeder und keiner. Die Sehnsucht nach der heldenhaften Identifikationsfigur mag bleiben, die Wonnen empathischen Schauens, des Mitleidens gar, verweigert der einstige Meisterschüler von Bert Brecht. Keine Rollenzuschreibungen, die Schauspieler sprechen abwechselnd Sätze aus dem Prosatext. Wenn ein Schauspieler, eine Schauspielerin eine von zwölf „Vigilien“ (zu Deutsch: Nachtwache, Vorabend eines hohen Fests, nächtliche Seelenmesse vor der Beerdigung) ankündigt, bekommt jeder ein Solo. Manche tänzeln, manche kreiseln, manche zaubern etwas aus dem Hut, trompeten oder stolzieren vogelgleich auf die Bühne, sagen das Kapitel ängstlich, fragend, heiter, brummig an.

Die restliche Zeit ist das Ensemble Teil eines dunklen Gesamtkunstwerkes, bewegt es sich in schwarzen, weißen, neonfarbenen und die Körper grotesk verformenden Kostümen in einer ausgeklügelten Choreografie zwischen durchsichtigen und sich spiegelnden Wänden. Auf diese Wände werden Feuerwerke projiziert, Kristalle in chemische Verbindungen aufgeschlüsselt, Schreibvorgänge vorgeführt, erscheinen sinnliche Marilyn-Monroe-Lippen und tausend Augen aus dem Nichts.

Ein Lob der kräftigen Stimme

Die Gesichter der Darsteller sind hinter Tiermasken oder verzerrten Pappgesichter-Versionen von Popikonen wie Lady Gaga versteckt. Klar im Vorteil sind da Schauspieler mit prägnanten Stimmen: Gabriele Hintermaier mit durchdringend schneidendem Ton und röhrend, wenn sie an der Drehorgel steht. Felix Strobel lässt aufhorchen mit anrührend Wunderlichem in der Stimme, wenn er trotzige Wut artikuliert und in ratlosem Frageton romantischen Witz ausspielt.

Musikalisch begleitet wird der séancehafte Spuk von Anna-Maria Hölscher unterm großen Puppenkopf und schwarzen Augenlöchern am Akkordeon und dem Perkussionist Bernd Stellmesser mit Totenkopfbemalung und goldener Krone auf dem Haupt. Die beiden hatten bereits vor der Vorstellung im Foyer umherspukend das Publikum mit schrägen Tönen erschreckt und so die von ferne klingende volkstümliche Blasmusik empfindlich gestört.

Ein tolles Training der Zuschauersinne. Wobei der Abitur-Sternchenstoff so frei interpretiert ist, dass die Schüler sich zur Prüfungsvorbereitung die Lektüre nicht werden sparen können. Freyer bringt den Text zum Tanzen und zum Schweben, lässt prosaische und poetische Welt ineinanderfallen. Die Spätgeborenen, welche die Schwärmerei über die Zusammenarbeiten vom ehemaligen Schauspielchef Claus Peymann und Achim Freyer in Stuttgart bisher nicht nachvollziehen konnten, erleben nun, was sie womöglich verpasst haben. Schön, dass der neue Intendant Burkhard C. Kosminski – ein Peymann-Kind, wie er sagt – Freyer wieder ans Schauspiel locken konnte.

Die nächsten Vorstellungen: 23., 31. Mai, 8., 20., 21. Juni