Wer bin ich? Deutscher? Russe? Jude? Nikita Gorbunov wandert nach Deutschland ein. Foto: /Max Kovalenko

Sein Uropa ist berühmt. Schriftsteller Lew Kopelew saß im Gulag wegen „Mitleid mit dem Feind“. Urenkel Nikita Gorbunov lebt in Stuttgart und beschäftigt sich mit der Familiengeschichte: „Warum kriegt mein Uropa eine Straße und ich nur Kulturförderung?“

Stuttgart - Es war ein besonderes Leben. Eines, in dem das 20. Jahrhundert steckt. Und das wieder ganz besondere Aktualität bekommt nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Das Leben des Versöhners und Schriftstellers Lew Kopelew. Und eines, das zeigt, wie verworren viele Familiengeschichten im 21. Jahrhundert sind. Sein Urenkel, der Bühnenpoet und Autor Nikita Gorbunov erzählt diese besondere Stuttgarter Odyssee in einem Theaterabend. Wobei er selbst Überraschendes erfährt.

Wer war Lew Kopelew?

1912 wird Lew Kopelew geboren, in eine jüdische Familie. Die Wehrmacht ermordet 1941 seine Großeltern und seine Tante, im Tal von Babi Jar in der heutigen Ukraine erschießen die Soldaten der 6. Armee 33 000 Menschen. Dennoch bleibt Kopelew Humanist. Als die Rote Armee in Ostpreußen einmarschiert, versucht Major Kopelew Morde, Misshandlungen und Vergewaltigungen zu verhindern. Dafür wird er wegen „Propagierung des bürgerlichen Humanismus, Mitleid mit dem Feind und Untergrabung der politisch-moralischen Haltung der Truppe“ zu zehn Jahren Lagerhaft im Gulag verurteilt. Dort lernt er den späteren Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn kennen.

Nach der Entlassung bleibt Lew Kopelew sich treu, protestiert gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei und wird wegen seiner Unterstützung für den Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow aus der UDSSR ausgebürgert. Er lebt fortan in der Nähe seines Freundes Heinrich Böll in Köln. Und stirbt 1997.

Was sind Löwenkinder?

Auftritt Nikita Gorbunov. Der betritt 1983 die Weltbühne. Und kommt 1990 nach Deutschland. Mit seiner Mutter, Kopelews Enkelin „Sie kommt als Alleinerziehende und wird Lohnbuchhalterin auf dem zweiten Bildungsweg“, so beschreibt Gorbunov diese Geschichte von „verworrener Migration“. Eine Geschichte, die er sich gerade wieder neu erschließt und in dem Stück „Löwenkinder“ aufdröselt.

Nicht zuletzt für sich selbst. So ging er davon aus, dass die Löwenkinder, Lew ist russisch für Löwe, nach Deutschland kamen, weil Kopelew dort lebte. Doch nun stellte sich heraus, seine Mutter hatte eine Freundin in Freiburg besucht. Dabei entdeckte sie eine Meldung in der „Badischen Zeitung“, dass Deutschland jüdische Kontingentflüchtlinge aufnehme.

Plötzlich Jude

Bisher hatte der Glaube keine Rolle gespielt in der Familie, Kopelew selbst sei überzeugter Kommunist und Atheist gewesen, erzählt Gorbunov, „für ihn war Religion tatsächlich Opium fürs Volk“. Doch plötzlich eröffnete das Jüdischsein einen Weg nach Deutschland. „Das wusste ich nicht, das habe ich erst mit der Recherche für das Stück erfahren“, sagt Gorbunov, „jetzt bin ich nicht nur Migrant, Russe, Deutscher, sondern auch noch Jude.“ Typisch für ihn ist seine Schlussfolgerung: „Als Ausländer habe ich auf jeder Bühne alles bereichert, was ging. Aber als ich erfuhr, dass ich vielleicht auch noch jüdisch bin – ich weiß nicht, ob ich den Job auch noch machen kann.“ Kann sein, dass er mit so vielen Identitäten aus dem Bereicherungsdienst für die deutsche Gesellschaft aussteigen müsse.

Welche Rolle spiele ich?

Zuvor allerdings wird er mit Regisseurin Boglárka Pap und Schauspieler Max Böttcher im Theater La Lune diese Einwanderungsgeschichte erzählen. Er stellt die Biografie seines Uropas seiner eigenen gegenüber. „Er war Autor und Humanist, ich hatte keine Bedeutung, ich war ein russischer Migrant.“ Sein Opa habe eine Straße in Köln bekommen, er Kulturförderung. Eine Familie, verschiedene Wege. Und viele Identitäten. Russe, Deutscher, Jude, „wer bin ich? Wie werde ich gesehen? In welche Rolle schlüpfe ich?“ Viele Zuwanderer bringen nun mal diese „großen verworrenen Geschichten voller Widersprüche“ mit, die sich jeder Einordnung entziehen. „Das ist schwer auszuhalten und zu ertragen.“ Gerade für eine Gesellschaft, die sich gerne bunt und vielfältig nenne.

Wie verworren sie sind, dass er hat Nikita Gorbunov gerade erst selbst erfahren. Sein Vater war im Internet auf die „Löwenkinder“ gestoßen, hat sich bei ihm gemeldet und aus Moskau angerufen. Nach 22 Jahren Sendepause.

Die „Löwenkinder“

Termine
Die „Löwenkinder“ sind am 25. Februar und am 27. Februar im Theater La Lune, Gablenberger Hauptstraße 130, zu sehen. Karten über E-Mail: reservierung@theaterlalunestuttgart.de.