Gleich explodiert es: Britta Scheerer (links), Dietmar Kwoka und Schirin Brendel Foto: Daniela Aldina

Was sollen wir nun tun? Immer schön global denken oder lieber wieder nationalistisch werden? Das Stuttgarter Studio Theater bringt dazu eine rasante neue Produktion auf die Bühne: „Hungaricum“.

Stuttgart - Ein Schuss, und das war’s mit Gyula. Ein paar Theatermomente bleiben ihm, die Leere in seinem Herzen zu beklagen, den Verlust der Ideale („ich hab auch mal was geglaubt“), dann geht es himmelwärts. Und es war doch Gyula (Dietmar Kwoka), der am Samstag im Studio-Theater Stuttgart diese zündelnde und später sogar explodierende Premiere mit den flotten Schritten eines Tangotänzers begann. Ein Altherrenhütchen auf dem Kopf, den Signalstab in der Rechten, so hielt er die Welt auf einem Parkplatz an der österreichisch-ungarischen Grenze in Schach.

Die Welt, das ist im Stück „Hungaricum“ der Brüder Presnjakow ein Mikrokosmos gescheiterter Existenzen. Dynamik und Flexibilität verlangt das neue, westliche System. Die Protagonisten setzen auf eigene Regeln. Keiner ist, was er vorgibt. Jeder betrügt jeden. Niemanden scheint es zu stören.

„Die Unglücklichsten sind die Gefährlichsten“

Christof Küster hat für das Stück, das auf dem Genre des Absurden Theaters basiert und 2010 in Vilnius uraufgeführt wurde, ein wundervolles Ensemble gefunden. Dietmar Kwoka ist Gyula, ein arbeitsloser Autoverkäufer und selbst ernannter Polizist; Christoph Franz ein prolliger Lkw-Fahrer, Jens Woggon ein orientierungsloser junger Mann. Britta Scheerer spielt Èva, Gyulas Ehefrau. Schirin Brendel gibt Sára, ein Weib im Animal-Look, das sich ewig neu erfindet. Caroline Sessler kellnert im China-Restaurant.

„Die Unglücklichsten sind die Gefährlichsten“, behaupten die Brüder Presnjakow. Und so werden ständig neue Bosheiten ausgeheckt: Den Laptop, den Gyula der Kellnerin unter dem Vorwand stiehlt, sie könnte im Netz Kontakte mit Terroristen knüpfen, schenkt er seiner Frau. Ein Tütchen mit 130 Gramm Kokain, das der junge Mann unter einer Mozartperücke versteckt, streckt er mit Puderzucker zu einem Kilogramm weißen Pulvers und fliegt damit auf. Sára pennt mit einem dahergelaufenen Lkw-Fahrer. Er soll sie nach Triest mitnehmen, denn dort hat James Joyce gelebt.

Die Autoren spucken alle in die Suppe

Und immer geht es ums schnelle Geld, um den Vergleich früher/heute, um falsche Identitäten, auch um Liebe und ums Essen. Im Besitz des Laptops, köchelt sich jetzt Gyulas Frau durch die internationalen Rezepte einer universellen Suppe. Ihr Mann aber liebt die derbe ungarische Kost. Die Weltsuppe, mäkelt der Mann, sei „ein nationales Sicherheitsrisiko“.

Globalisierung versus Nationalismus: Oleg und Wladimir Presnjakow spucken allen in die Suppe. Im Studio-Theater ergibt der schnelle Umbau vier metallener Stellwände immer neue Spielräume. Autofelgen dienen als Tisch, Sitzmöglichkeit und Kochfeld. Das Ensemble treibt die Verrücktheiten des „Hungaricums“ mit kraftvoller Rasanz und Komik voran. Das Publikum, gebannt von der ersten Tango-Argentino-Sequenz bis zu Gyulas Erkenntnis „Wir hatten alle mal die Wahl und haben uns falsch entschieden“, bedankt sich mit stürmischem Beifall.

Die nächste Vorstellung am 15. März. Kartentelefon 07 11 / 24 60 93