Kultur-Collage aus dem Stuttgarter Osten – Bücher, Musik und mehr Foto: Jürgen Brand

Ein Künstler äußert öffentlich, dass es mit der Kultur im Stadtbezirk finster aussehe. Das hat viele Kulturschaffende ziemlich verärgert. Ihr Rat für den Neu-Ostler: Sich erst einmal informieren.

S-Ost - Ein Künstler will den Osten kulturell bereichern und eröffnet einen Projektraum ganz in der Nähe des Ostendplatzes. Er ist natürlich willkommen. Dann aber antwortet Andreas Bär in einem Zeitungsinterview auf die Frage, ob im Osten ein solcher Projektraum gefehlt habe: „Es gibt das Theater La Lune und die Galerie Zero Arts, aber sonst sieht es hier finster mit Kultur aus.“ Das gefällt den vielen Kulturschaffenden im Stuttgarter Osten, die im Stadtbezirk zum Teil seit vielen Jahren vielfältig wirken, ganz und gar nicht. Die Redaktion hat einige von ihnen um Stellungnahmen gebeten.

Stefanie Riedner, Kulturwerk

„Es ist so eine Sache mit der Wahrnehmung. Und sicher wohl auch mit dem, was man unter Kultur versteht. Doch finster sieht es mit der Kultur im Stuttgarter Osten bestimmt nicht aus. Denn es gibt zahlreiche wunderbare und vielfältige Orte, Initiativen und Menschen, die hier kulturell aktiv sind und den Stadtteil lebendig leuchten lassen. Die Aussage von Herrn Bär kann nur verwundern und wohl nur bedeuten, dass er sich hier noch nicht umgesehen hat. Andernfalls hätte er sicher etwas mitbekommen von den vielen sowohl traditionsreichen als auch jungen Kultureinrichtungen, zahlreichen aktiven Vereinen, Kulturtreffs bis hin zu engagierten Begegnungsstätten, die hier viele Möglichkeiten bieten Kultur wahrzunehmen und selbst Kultur zu machen. Einfach Augen auf, denn es lässt sich viel entdecken. Und dann ist es auch nicht mehr so finster.“

Ulrich Gohl, Muse-O

„Ja, wir sind schon arm dran, wir Menschen im Osten – hier, im kulturellen Nirgendwo. Täglich beneiden wir unsere MitbürgerInnen im Westen und im Süden, wo die Kultur doch so üppig blüht. Und bei uns? Kein Livemusik-Club von nationalem Rang (Laboratorium), kein bemerkenswertes Puppentheater (Tredeschin), kein Bezirksmuseum mit beachtlichen Wechselausstellungen, Lese- und Konzertreihe (Muse-O), keine Kinder-Kulturwerkstatt (Karamba Basta), keine großartige Off-Bühne (Kulturwerk), keine Plattform für Kulturschaffende (Kulturtreff), keine Stätte für kreatives Arbeiten (Werkstatthaus), keine international renommierte Galerie (Valentien). Und Dutzende anderer Kulturräume und -menschen habe ich jetzt versäumt zu übersehen. Wir Ostler bitten um angemessenes Mitleid.“

Ulrich Schlote, Ostend-Buchhandlung

„Beim Zeitungslesen hab ich mich über Herrn Bär saumäßig geärgert. Seine Äußerung zeugt von einer erheblichen Arroganz, die noch von seiner Ahnungslosigkeit übertroffen wird. Nicht, dass wir nicht noch mehr Kultur vertragen würden. Aber wenn ich anfinge aufzuzählen, was es alles gibt, wäre der Rahmen hier sofort gesprengt.“

Sarah Haberkern, Art & Antik

„Der Osten hat kulturell einiges zu bieten, das fängt schon bei der schönen historischen Bebauung mit Klinkerbauten an und setzt sich in den tollen Arealen der Merz-Akademie sowie der Villa Berg und ihrem Park fort. Neben dieser historischen Kulisse blüht auch die Gegenwartskunst, was sich an der Existenz der Ateliers Reitzensteinstraße, dem Auktionshaus Nagel, der Zero-Arts-Galerie, der Art & Antik-Galerie, dem Ost-End-Kunstraum zeigt. Wer sich auskennt, der kann viele interessante Orte entdecken. Ob Comedy in der Friedenau, Theater im „La Lune“, Tapas „Im Feui“, Schnitzel im Schweinemuseum, historische Kirchen, russisches Theater oder Ballett. Im Gasparitsch kämpfen links orientierte Menschen für mehr Mitbestimmung, in der Hackstraße erschaffen einige türkischstämmige Jungs ein Barber- und Tattoo-Imperium, man kann im Schlafanzug in den Supermarkt und jedes alte Klinkerhaus ist anders. Ein Stadtteil, der noch normal geblieben ist für echte Menschen mit verschiedenen Interessen, wo auch der Theatergänger noch Döner essen darf, weil der Mensch nun mal kein Stereotyp sein sollte.“

Anette Battenberg, Laboratorium

„Was mich doch immer wieder überrascht: dass ausgerechnet die Akteure der Gentrifizierung diese beklagen. Wie Andreas Bär, der mit dem Projektraum Ostend zweifelsohne eine Bereicherung für den Osten ist, damit aber doch in erster Linie die Klientel des Bevölkerungswandels anspricht. Und ansonsten ex oriente nox? Ich nenne stellvertretend für eine lebendige Szene Ost: Kulturwerk, Muse-O, Gasparitsch, Theater Atelier, Gabys Gruft, Freies Radio, Schlampazius, Laboratorium . . . Diese Kultureinrichtungen existieren teilweise schon seit Jahrzehnten im und mit dem Osten. Dass wir mit unserem Angebot unter dem Radar des Andreas Bär liegen, mag bedauerlich sein. Aber es bedeutet ganz sicher eines nicht: Dass der Osten finsteres Barbarenland sei, in dem nur zwei, pardon, nach Bär’scher Lesart nunmehr drei nennenswerte Kultureinrichtungen leuchten.“

Martin Fritz, Merz-Akademie

„Wir sehen im Stuttgarter Osten, den wir seit 1990 mitgestalten, seit jeher einen Stadtteil mit hoher Attraktivität. Nun sollte im Zuge der Wiederbelebung der Villa Berg eine Art „Karlshöhe der Kultur“ geschaffen werden – ein durchgängiger Grün- und Freizeitraum, in dem man etwa von einer SWR-Führung oder einem Konzert in der Villa Berg noch zu einem Kaffee oder einer Ausstellung in den heutigen Kulturpark Berg spazieren könnte. Zudem wohnt im Osten ein Teil der Gesellschaft, der Orte jenseits der Innenstadtmieten sucht und braucht. Rund um den Ostendplatz liegt ein Hauch von Brooklyn in der Luft. Dazu trägt auch die soziale Durchmischung bei, die nicht zuletzt den Wohnsiedlungen aus dem frühen 20. Jahrhundert und den sozialen Einrichtungen geschuldet ist. Diese sind als Ankerpunkte kommunalen Lebens schützenswerte und ausbaufähige Orte.“

Michael Kunze, Theater Tredeschin

„Mir scheint der Blick des Herrn Bär getrübt. Finster sieht es nur mit seiner Wahrnehmung der Kultur im Stuttgarter Osten aus. Nur zwei Kulturinstitutionen zu nennen ist ignorant. Die Szene ist bunt und vielfältig. In nächster Nähe zum Ostendplatz befinden sich das Atelier Theater, die Bühne der Friedenau, das Kulturwerk, das Laboratorium, das Theater Tredeschin mit Kinderbühne, Konzerten und Schauspiel seit über 23 Jahren, die Theaterakademie, das Eurythmeum . . .“

Vladislav Grakovskiy, Theater Atelier

„Das Theater Atelier, eine der kleinsten Stuttgarter Bühnen, wurde 2014 eröffnet. Seitdem wird bei uns die Kunst des Schauspiels, über die Präsentation vor Publikum hinaus, als eine Stätte der Begegnung von Sprachen und Kulturen gestaltet. Wir decken alle Sparten der modernen Kunst, von Theater über Choreografie, Musik und Film, szenische Lesungen bis hin zu Improvisationsdarstellungen ab. Diskussionen, in denen sich Künstler und Publikum in freundlicher Atmosphäre austauschen können, sind ein unabdingbarer Bestandteil unseres Programms. Seit 2014 haben wir mehr als 20 Premieren geschafft. In der Spielzeit 2018/2019 wird es zum Beispiel non-verbales Theater wie „Die Verwandlung“ nach Kafka oder ein Märchen für Erwachsene „Der Sandman“ nach Hoffmann geben. Sicher braucht der Bezirk mehr Kultur und Kunstinstitutionen. Aber von Niemandsland kann keine Rede sein.“