Tolerante Bildungsbürger werden auf die Probe gestellt: Taraneh Alidoosti und Shahab Hosseini in „The Salesman“ Foto: Prokino

Wenn der iranische Regisseur Asghar Farhadi intime Familiengeschichten erzählt, geht es immer auch um mehr. Sein jetzt im deutschen Kino startender „The Salesman“ stürzt ein liberales Paar mit dem Umzug in eine neue Wohnung in eine tiefe Krise.

Teheran - „Eigentlich müsste man hier alles abreißen und neu wieder aufbauen“, sagt Rana, während ihr Blick über einen fürchterlich verbauten Teil Teherans schweift. Auf diesen Gedanken kann auch kommen, wer an der falschen Stelle auf Stuttgart schaut – oder jede beliebige andere größere Stadt überall auf der Welt. Das ist das Geheimnis der Filme des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi: Seine Charaktere und Geschichten haben allgemeingültige Züge, sein Blick richtet sich auf das Universelle, das alle Menschen verbindet, unabhängig von ihrer Herkunft und Kultur; dabei, und das ist die große Kunst, sind Farhadis Werke tief verwurzelt in der zeitgenössischen iranischen Realität.

Rana (Taraneh Alidoosti) und Emad (Shahab Hosseini), ein aufgeklärtes Bildungsbürger-Paar, laviert sich durch im Gottesstaat wie viele andere auch und nutzt geschickt Freiräume. Weil ihr Wohnhaus einsturzgefährdet ist, brauchen die beiden eine neue Bleibe. Ein Freund vom Theater (großartiger als charmanter Gauner: Babak Karimi) kann ihnen direkt eine vermitteln, ein Glücksfall in der von Wohnungsnot geplagten iranischen Hauptstadt.

Das Apartment auf einem Flachdach mit reichlich Außenfläche indes offenbart bald ein Handicap: Es seien viele Männer ein- und ausgegangen, erzählen die Hausmitbewohner in konspirativem Ton über die Vormieterin. Diese ist plötzlich verschwunden, ihr Geist aber schwebt weiterhin in den Räumen, weil sie große Teile ihres Hausrats zurückgelassen hat und sich nicht beeilt, diese abzuholen. Kurz darauf liegt Rana blutend und bewusstlos im Badezimmer – die Vergangenheit der Wohnung hat sie in „The Salesman“ eingeholt.

Probe für die Zweisamkeit

Der gewaltsame Einbruch in die Privatsphäre belastet das Eheglück: Was ist geschehen? Wer ist der Täter? Was denken Nachbarn, Freunde? Das liberal eingestellte, tolerante Mittelschichtspaar stößt an seine Grenzen, als traditionelle Moral- und Ehrvorstellungen in sein Leben drängen, die es überwunden zu haben glaubte. Rana und Emad zerreißt es beinahe, beide reagieren hektisch. Nuancenreich und einfühlsam, oft nur mit Blicken und Gesten, gestalten Shahab Hosseini und Taraneh Alidoosti diese Probe für die Zweisamkeit.

Rana verschließt sich zunächst, versinkt in weiblichen Schuld- und Schamgefühlen. Sie möchte auf keinen Fall zur Polizei gehen und Anzeige erstatten, sich fremden Männern offenbaren, was Emad misstrauisch werden lässt: Verheimlicht sie etwas? Rana wiederum zweifelt an Emads Loyalität, als sie einen Blackout auf der Theaterbühne hat und er sich nicht vehement genug widersetzt, als die Regisseurin den Part selbst übernimmt.

Zu Hause finden sie den Autoschlüssel des Eindringlings und den dazu passenden Lieferwagen einer Bäckerei. Der zunächst sanftmütige Emad, der im Literaturunterricht seine Schüler dazu an hält, zu reflektieren, eigene Gedanken zu entwickeln, beginnt nun, auf eigene Faust nach dem Täter zu suchen – und steigert sich in der Krise zusehends hinein in einen selbstjustizlerischen Rachewahn, er fällt zurück in eine atavistische Auge-um-Auge-Logik.

Falsch verstandene Ehrensachen

Nur vordergründig handelt Asgar Farahdis Geschichte von einer unglücklichen Verwechslung mit tragischen Folgen – in Wahrheit liefert er ein facettenreiches, präzise beobachtetes Porträt der zerrissenen iranischen Gesellschaft der Gegenwart. Genau wie in seinem Oscar- und Berlinale-Erfolg „Nader und Simin – eine Trennung“ (2011) generiert der Regisseur aus scheinbar alltäglichen Situationen eine atemberaubende Spannung und rührt in einer Vielzahl virtuos angelegter Wendungen an menschliche Grundsatzfragen.

Besondere Bedeutung kommt dem freien Theaterensemble zu, dem bei seiner künstlerischen Gratwanderung ständig die Zensurbehörde im Nacken sitzt. Es führt Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ auf, beschäftigt sich also explizit mit falsch verstandenen Ehrensachen und dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. In diesem Mikrokosmos offenbart sich im Kleinen die innere Dynamik einer Bürgergesellschaft, die den Restriktionen eines autoritären Regimes in Nischen trotzt. Farhadi zeigt, wie bescheiden und karg es dort zugeht, aber auch große Zeichen des Widerstands: Die Hure aus dem Badzimmer darf natürlich nicht, wie von Miller konzipiert, unbekleidet sein – also trägt sie einen roten Mantel, im Film traditionell die Signalfarbe für drohende Gefahr.

Die reale iranische Zensurbehörde wollte Farhadis Film zunächst nicht für die Bewerbung um den Auslands-Oscar zulassen, Begründung: Er sei „nicht einheimisch genug“; die Wahrheit dürfte sein, dass er den Sittenwächtern auf unheimliche Art zu einheimisch war in seiner ganzen universellen Brisanz. Genau deshalb ist er nun im Oscar-Endlauf eine ernsthafte Konkurrenz für Maren Ades „Toni Erdmann“.

Sehen Sie hier den Trailer zu „The Salesman“:

The Salesman. Iran, Frankreich 2016. Regie: Asghar Farhadi. Mit Shahab Hosseini, Taraneh Alidoosti, Babak Karimi. 123 Minuten. Ab 12 Jahren.