An diesem Sonntag, 2. Februar, wird in der Stadtkirche Bad Cannstatt eine Rarität aufgeführt: „The Great Learning“ von Cornelius Cardew mit mehr als hundert Beteiligten. Der Komponist bezieht sich mit diesem Werk auf Konfuzius.
Bei der nicht mehr so ganz gegenwärtigen Gegenwartsmusik, also etwa jene der 1960er oder 1970er Jahre, kennt sich der Dirigent Hannes Seidl bestens aus: Ist dieses Musikstück nun näher an John Cage, an Karlheinz Stockhausen oder an Maurizio Kagel? Darüber könnte man sich mit ihm vermutlich stundenlang unterhalten. Aber Seidl, selbst Komponist, weiß auch, wie man diese Musik von einst ins Heute rettet und so etwas interessant und abwechslungsreich anbietet.
Das Hauptwerk wurde zwischen 1968 und 1971 komponiert
Deshalb ist Seidl zurzeit in Stuttgart unterwegs. Denn am Sonntag, 2. Februar, wird um 19 Uhr in der Stadtkirche von Bad Cannstatt solch ein Werk aufgeführt: „The Great Learning“, ein Stück, das der Brite Cornelius Cardew in den Jahren 1968 bis 1971 geschrieben hat und das heute als sein Hauptwerk gilt. Cardew hat all jene Stationen durchlaufen, er hat mit Cage, Stockhausen und Pierre Boulez zusammengearbeitet, er hat aus diesem Kontext heraus elektronisch, experimentell und aleatorisch komponiert, er hat grafische Partituren geschrieben, hat sich der Improvisation gewidmet.
„The Great Learning“ ist Cardews Abschlusswerk
Wer weiß, was da noch gekommen wäre, aber Cardew ist 1981 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sein Hauptwerk „The Great Learning“ ist somit auch sein Abschlusswerk. Mit dem Titel bezieht sich Cardew auf die konfuzianische Schrift „Das große Lernen“ in der Übersetzung von Ezra Pound. Das ist, vereinfacht formuliert, ein Sieben-Punkte-Plan für ein erfülltes und gutes Leben, der über Jahrhunderte hinweg vor allem, aber nicht nur die chinesischen Dichter und Denker beschäftigte.
Häufig aufgeführt wird „The Great Learning“ nicht, denn der personelle Aufwand ist groß. Eine Gesamtaufführung in Basel dauerte mehr als sieben Stunden. In Bad Cannstatt wird am Personal nicht gespart, an der Dauer der Aufführung aber schon: Drei der sieben Teile werden aufgeführt – das dauert eine gute Stunde, in der alles Wesentliche stecken soll, was Cardews Werk auszeichnet.
Profis und Laien treten gemeinsam auf
Für diesen außergewöhnlichen Musikabend in Bad Cannstatt ist der Kantor Jörg-Hannes Hahn eine gute Adresse mit seiner Reihe „Musik am 13.“, die zu diesem Anlass aufgrund der vielen Teilnehmer ausnahmsweise zur „Musik am 2.“ wird. Aber sein Bachchor reicht nicht aus für diese Aufführung: Dazu kommen Studierende und Dozenten der Stuttgarter Musikhochschule sowie der Chor des Weilimdorfer Solitude-Gymnasiums. Und eben Hannes Seidl, der die Chöre einstudiert. Er hat sich schon lange intensiv mit dieser Partitur beschäftigt, er kennt auch die Musikschaffenden. Denn auch das ist eines der zentralen Anliegen von Cardew: Profis und Laien sollen hier gemeinsam auftreten. Zusätzlich zu dem, was diese sonst so machen, sollen sie nun auch noch improvisieren oder Geräusche statt Klänge produzieren. Das alles nach dem jeweiligen Können und Wollen der Einzelnen, aber doch auch im Rahmen einer Form.
Klanginseln in der Stadtkirche
Das klingt nun alles reichlich verwirrend und kompliziert, aber so viel sei schon jetzt verraten: Es wird gehörig abwechslungsreich zugehen an diesem Abend in der Stadtkirche, weit mehr als 100 Teilnehmer gestalten diesen Abend. Und sie werden nicht nur irgendwie im Kirchenschiff herumstehen, sondern den Raum durchwandern und dabei Klanginseln bilden. Die Mitwirkenden werden unter anderem auch Protestplakate zeigen und dabei eben allerlei der beschriebenen musikalischen Wandlungen vollziehen. Damit das Ganze etwas nachvollziehbarer wird, wurde der Text ins Deutsche übertragen. Hahn, quasi als Hausherr, ist zuversichtlich: „Die Stadtkirche Bad Cannstatt eignet sich hervorragend für solch eine Aufführung.“ Auch der Chor sei voll dabei: „Natürlich gibt es welche, die sind bei der Musik von Johann Sebastian Bach mehr zu Hause, tun sich also schwerer mit zeitgenössischen Sachen. Aber auch die kommen am Ende und sagen: Die Mühen haben sich gelohnt.“