Wiedererkennungswert: Staatsgalerie wirbt mit LichtensteinFoto: Staatsgalerie Stuttgart Foto:  

So spannend kann die Antwort auf die Frage sein, ob die Kunstmuseen aus dem Hamsterrad des Spektakulären aussteigen müssen: Ohne Verzicht auf Lust und Sinnlichkeit zeigt sich die Schau „The Great Graphic Boom“ in der Staatsgalerie Stuttgart als so konzentrierter wie intensiver Einblick in die eigene Sammlungsgeschichte.

Stuttgart - Der Titel verspricht viel, das Plakatmotiv mit einem Hauptwerk von Roy Lichtenstein noch mehr – und dann? Ja dann beginnt die von diesem Freitag an im Stirlingbau der Staatsgalerie Stuttgart zu sehende Sonderausstellung „The Great Graphic Boom. Amerikanische Kunst 1960-1980“ auch noch mit einem wahren Duell.

Andy Warhol trifft Donald Judd

Auf der einen Seite: Andy Warhol, der König der Verwandlung der Alltagswelt in eine Bühne der Kunst. Auf der anderen Seite  Donald Judd, der König des Minimalismus, der bewussten Absage an ablesbare Effekte. Einer aber wagt sich dazwischen: Frank Stella. Stella, der die in der Zeichnung untersuchte Rhythmik in der Raumskulptur grellbunte zylindrische Form werden lässt, Stella, der sich der Verfahren der Pop Art wie der Minimal Art bedient und doch eine ganz eigene, unverwechselbare Handschrift entwickelt.

Und nun? Wird Stella gar zum Wegweiser durch eine Museumsrealität, die sich nicht auf die von Corinna Höper und Nathalie Frensch in Kooperation mit dem Nationalmuseum in Oslo erarbeitete Ausstellung „The Great Graphic Boom“ reduzieren lässt.

Die ganze Staatsgalerie wird einbezogen

Diese Schau schlägt in der Staatsgalerie buchstäblich Wellen, wirft mit der begleitenden Präsentation „Pop Unlimited“ (ein Konzentrat an Beständen rein zur Pop-Art der 1960er Jahre) im Graphik Kabinett Anker im Steib-Bau – und damit inmitten des Staatsgalerie-Besten an US-amerikanischer Minimalkunst. Frank Stella übernimmt einen Raum weiter – und bevor man zurückkehrt in die von Stella gespiegelte europäische Moderne, grüßt eine weitere US-Ikone der späten 1960er und frühen 1970er Jahre – Duane Hansons „Putzfrau“.

Kunst, die alle Sinne berührt

Ein Rundkurs zum Staunen

Es lohnt sich aber, den Wiedereintritt in das „Graphic Boom“-Szenario noch etwas zu verschieben. Vorbei an Staatsgalerie-Heroen-Werkblöcken von Max Beckmann, Oskar Schlemmer, Pablo Picasso und Joseph Beuys geht es ja im Stirling-Obergeschoss zu Hauptwerken etwa von Andy Warhol und Barnett Newman. Und dann? Hinein in den „Graphic Boom“-Rundkurs – und Staunen!

Allein Barnett Newmans Serie „18 Gesänge“von 1963 ist den Besuch dieser Ausstellung wert, die eines von Beginn an deutlich macht: Welch langes Glück in der Kunst frühe Liebe begründen kann. Das Interesse der US-amerikanischen Künstler an in den frühen 1960er Jahren weiter entwickelten druckgrafischen Verfahren machte für deutsche Museen den Ankauf von Werken seinerzeit schon namhafter Künstlerinnen und Künstler möglich. Und die Staatsgalerie Stuttgart kaufte. Kaufte früh und gut – wie national bereits zu Beginn der 1970er Jahre vermerkt wurde.

Der frühe museale Zugriff beflügelt wiederum das Kunstengagement von Unternehmen und Privatsammlern. Und so fügen sich für das „Graphic Boom“-Panorama Ankaufsbestände der Staatsgalerie mit Schenkungen der Kohlhammer-Stiftung sowie des Sammlerpaares Günter und Renate Hauff zu einem um 19 exquisite Gäste (zuvorderst einer Jasper-Johns-Serie und einem eindringlichen Bruce-Nauman-Ensemble) vervollständigten Ganzen.

Berührende Momente

Berührende Momente gibt es auf diesem Parcours – etwa, wenn Agnes Martin 1973 in ihrer 30-teiligen Folge „On a Clear Day“ mit wenigen Linien die Aneignung von Welt durch die Kunst fast zärtlich und doch kompromisslos konkret summiert. Oder wenn John Baldessari in einem späten Blatt von 1986 sein Verfahren der Neudefinition gefundener Motive mit einer schlichten hellblauen Waagrechten als bewusstes Spiel mit der Frage nach dem Original identifiziert.

Natürlich darf die Lautstärke von Robert Indiana (der in Stuttgart bei Domberger drucken ließ), Roy Lichtenstein und Andy Warhol nicht fehlen. Umso weniger, als es ja auch diese Künstler sind, die der Alltagskultur erstens direkt antworten und zweitens ihre Methodik der industriellen Fertigung bewusst aufnehmen. Letzteres aber ist doch mit Vorsicht zu genießen, blieben doch im autorisierten Werk die ganz hohen Auflagen die Ausnahme.

Und so darf man noch einmal staunen – über den hintersinnigen Ernst der so farbenfrohen Nummer-Bilder von Robert Indiana, über die spielerische Leichtigkeit, mit der Roy Lichtenstein in seinem Materialmix eigene Welten entstehen lässt – und über die zeitlose Direktheit in den Werken von Andy Warhol.

„The Great Graphic Boom“ – das macht diese Ausstellung als Ausgangspunkt einer in den kommenden Wochen nun möglichen umfassenden Neuannäherung an die US-amerikanische Kunst seit den 1960er Jahren deutlich, ist Spiegel einer Chance, als die Künstlerinnen und Künstler die Möglichkeiten der Druckgrafik erkannten. Die Staatsgalerie beleuchtet dieses Szenario zu Recht mit einem umfassenden Führungsprogramm .

Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche

Bis zum 5. November (Di bis So 10 bis 18, Mi 10 bis 20 Uhr). Eintritt 12 Euro (ermäßigt 10 Euro) – die Tickets gelten auch für die Sammlung (und die Schau „Pop Unlimited“. Kinder und Jugendliche bis 20 Jahre frei – möglich macht dies die L-Bank. Der Katalog kostet 24,90 Euro. www.staatsgalerie.de