Der Mythos vom ersten Thanksgiving anno 1621 prägt bis heute die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Doch der nationale Feiertag ist längst nicht für alle Amerikaner ein Grund zum Feiern.
Washington - Kommende Woche ist es wieder so weit: Wie jeden vierten Donnerstag im November wird in den USA einer der bedeutendsten Feiertage des Jahres begangen: Thanksgiving, die amerikanische Variante unseres Erntedankfestes. An einer reich gedeckten Tafel wird ein Menü serviert, das angeblich nur aus ursprünglich nordamerikanischen Lebensmitteln besteht: ein knuspriger, gefüllter Truthahn, Süßkartoffeln und Mais. Dazu werden Cranberry-Soße, Erbsen und Kürbis gereicht. Abgerundet wird das opulente Mahl im Kreise der Familie mit Apfel- und Kürbiskuchen.
Das große Schmausen hat eine lange Tradition und ist älter als die USA selbst. Es erinnert an ein Ereignis vor 400 Jahren, das jeder Amerikaner kennt: Ende 1620 landeten 102 englische Siedler mit der „Mayflower“ im heutigen US-Bundesstaat Massachusetts und gründeten eine Kolonie, die sie nach ihrem englischen Heimatort Plymouth benannten. Die Pilgerväter waren strenggläubige Puritaner auf der Suche nach Religionsfreiheit, die ihnen in ihrer Heimat nach der Lossagung von der anglikanischen Staatskirche versagt blieb.
Die Hälfte der Siedler stirbt im ersten Winter
Doch der Auszug in die Neue Welt war anfänglich mit großen Schwierigkeiten verbunden. Weil sie in dem ihnen unbekannten Land nicht genügend Nahrung fanden, starb die Hälfte der Neuankömmlinge im Winter an Hunger und Krankheiten. Im Frühling nahmen sich die einheimischen Wampanoag-Indianer ihrer an. Von den Ureinwohnern lernten die dezimierten Immigranten landwirtschaftliche Produkte wie Mais und Kürbisse anzubauen, Tiere im Wald zu jagen und Fische zu fangen. Auf diese Weise konnte die Kolonie überleben. Die Ernte im darauffolgenden Jahr war reichlich. Um sich bei den Indianern zu bedanken, feierten sie gemeinsam mit ihren Helfern ein dreitägiges Festmahl. Dieses multikulturelle Picknick gilt als Ursprung von Thanksgiving und wurde ein fester Bestandteil der US-amerikanischen Erinnerungskultur.
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Zum nationalen Feiertag wurde Thanksgiving im Jahr 1863 durch US-Präsident Abraham Lincoln. Mitten im amerikanischen Bürgerkrieg hatte der Commander-in-Chief die integrative Wirkung des Versöhnungsfestes als friedensstiftendes Diner erkannt, das die gespaltene Nation symbolhaft wieder an einen Tisch bringen sollte. Thanksgiving steht seitdem nicht nur für Versöhnung, sondern bildet auch den ältesten Kern des amerikanischen Wertesystems.
Die Puritaner sehen sich als von Gott auserwählt
Vielen US-Bürgern gilt der am 21. November 1620 von den Pilgervätern nach ihrer Landung unterzeichnete Gesellschaftsvertrag („Mayflower Compact“) als frühestes Dokument amerikanischer Selbstverwaltung und des Willens, ihr Gemeinwesen mit selbst gegebenen, gerechten und gleichen Gesetzen zu ordnen. Hinzu kommt die Vorstellung, dass dieser Vertrag von ganz oben abgesegnet war. Gemäß der calvinistischen Prädestinationslehre waren die Pilgerväter davon überzeugt, zu den von Gott Erwählten zu gehören. Sie träumten davon, nach biblischem Vorbild ein himmlisches Jerusalem auf Erden zu errichten, das als Hort von Tugend und Rechtgläubigkeit dem Rest der Welt als leuchtendes Beispiel dienen sollte.
Der Puritanismus wurde zum Motor einer von göttlicher Autorität sanktionierten Kolonisierung. Und die Pilgerväter avancierten zu jenen Protagonisten, die diesen Prozess initiiert, die amerikanische Wildnis urbar gemacht und die Besiedlung des Landes vorangetrieben hatten. Damit lieferten sie den Stoff für eine Art Gründungsmythos, wonach rechtschaffene Kolonisten den Grundstein für eine Nation von unerschrockenen, freiheitsliebenden und gottesfürchtigen Menschen gelegt hätten.
Für die indigene Bevölkerung sind die Siedler eine Katastrophe
Soweit die offizielle Version über Thanksgiving. Sie ist eine Geschichte von Freundschaft und Frieden zwischen den Einwanderern und der indigenen Bevölkerung. Doch es gibt auch eine andere Geschichte, die mit dem verklärenden Bild vom ersten Thanksgiving wenig gemein hat und auch der Grund dafür ist, warum längst nicht allen Amerikanern an diesem Tag zum Feiern zumute ist. Die meisten Nachkommen der Indianer etwa tun sich schwer damit, die Ankunft der Pilgerväter zu feiern, zumal dies auch den Beginn einer jahrhundertelangen Geschichte der Unterdrückung und Diskriminierung bedeutete.
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Ihre Vorfahren wurden von den weißen Ankömmlingen durch eingeschleppte Krankheiten und Kriege stark dezimiert, in Reservate gesperrt, einige Indianerstämme komplett ausgerottet. Die posthum beschworene Willkommenskultur – sofern sie überhaupt existiert hatte – währte nicht allzu lange. 50 Jahre nach dem legendären Versöhnungsmahl rebellierte die indigene Bevölkerung gegen jene weißen Kolonisten, die sich anschickten, sie von ihrem Land zu vertreiben und zu versklaven. Der von mehreren Indianerstämmen getragene Aufstand mündete in einen verheerenden Krieg (1675–1676) und endete für die Einheimischen in einem Blutbad.
Der Feiertag ist eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert
Höchst fraglich ist nach wie vor, ob Thanksgiving überhaupt von den Pilgervätern eingeführt wurde, zumal der Feiertag in seiner heutigen Form eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, wie die Historikerin Jill Lepore sagt. Es gab demnach keine Verbindung zwischen Pilgern und Thanksgiving, bis Reverend Alexander Young 1841 in Boston ein Buch – „Chronicles of the Pilgrim Fathers“ – veröffentlichte, das einen Brief von Edward Winslow vom 11. Dezember 1621 enthielt. Darin beschrieb der frühe Kolonist eine dreitägige Feier, an der 50 Siedler und etwa 90 Indianer teilgenommen hätten. Young fügte dem Brief eine Fußnote hinzu, in der es hieß, das Ereignis sei das „Erste Erntedankfest“.
Dem Kirchenmann unterlief dabei ein folgenschwerer Fehler: Er verwechselte die englische Tradition eines weltlichen Erntefestes mit der puritanischen Tradition der heiligen Erntedankfesttage, die eine Zeit des Fastens und des Gebets waren und von den strenggläubigen Calvinisten hauptsächlich in der Kirche und nicht als Open-Air-Veranstaltungen begangen wurden, wie der Historiker David J. Silverman feststellt.
Truthahn stand beim „Ersten Thanksgiving“ nicht auf dem Speiseplan
Young lieferte mit seiner Interpretation den Stoff für einen Mythos, der eine imaginäre amerikanische Gemeinschaft schuf, die es so nie gegeben hat. Stark verklärt und politisch instrumentalisiert, ist unser Bild von Thanksgiving revisionsbedürftig. Die viel beschworene Harmonie und Freundschaft zwischen Siedlern und Einheimischen, mit denen das Versöhnungsfest heutzutage meist verbunden wird, sind ein Zerrbild dessen, was sich eigentlich hinter diesem nationalen Feiertag verbirgt: die Geschichte von Verrat und millionenfachem Leid, das den Native Americans widerfahren ist.
All das sollte jenen Feiernden bewusst sein, die sich dieser Tage wieder in trauter Umgebung zusammenfinden, um traditionsgemäß ihren Turkey zu verspeisen, der übrigens gar nicht auf der Speisekarte beim „Ersten Thanksgiving“ gestanden haben soll.
Literatur
Jill Lepore: „Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“, C. H. Beck 2020.