Das Werkzeug der "Spitzenkünstlerinnen": Ein original Klöppelkissen. Klicken Sie sich durch weitere Bilder von der Ausstellung ""StGall – Spitzengeschichte". Foto: StGall

Eine Ausstellung in St. Gallen zeigt fünf Jahrhunderte Textilgeschichte.

St. Gallen - Im 19. Jahrhundert hat die St. Galler Spitze zuerst die Modemetropole Paris und von dort aus die Neue Welt erobert. St. Gallen galt als Vorstadt New Yorks - es war die Blütezeit der Modeschöpfer aus der Ostschweiz. Nun zeigt eine Ausstellung die Textilgeschichte im Verlauf von fünf Jahrhunderten.

Das englische Königshaus liebt die Stoffe von Martin Leuthold. Der Mann ist Chefdesigner der Firma Jakob Schlaepfer. Seine Stoffdesigns sind international gefragt. Die Queen jedenfalls hat vorgesorgt: Wenn 2012 die Olympischen Spiele in London eröffnet werden, wird sie sich in Pink, Rosa und Salm aus St. Gallen kleiden. Ihr Hofschneider hat die Stoffe schon geordert.

Die meisten Leute jedoch kaufen Schlaepfer-Stoffe als fertige Kleidungsstücke, entworfen von Designern wie Karl Lagerfeld, Christian Lacroix, Albert Kriemler oder Vivien Westwood. Die Stars der weltweiten Modeszene können dabei aus dem Vollen schöpfen. Martin Leuthold produziert pro Jahr 1000 neue Stoffe. Das ist eigentlich genügend Arbeit. Doch in den vergangenen Monaten hat sich der Art Director noch mehr aufgehalst. Er hat als Gastkurator die Ausstellung "StGall - Die Spitzengeschichte" in ein besonderes, weil dunkles Licht gerückt. Oft nur schwach beleuchtet sind die Räume des Textilmuseums in St. Gallen vor allem deshalb, weil die verführerischen Spitzenprodukte sonst Schaden nehmen könnten.

Statussymbol der Reichen und Mächtigen

Wer an Spitze denkt, denkt an schwarz gekleidete Witwen. Oder an Frauen in erotischer Reizwäsche. Oder an weiße Einstecktücher und Tischdecken. Auf den drei Etagen des Museums gibt es wesentlich mehr zu sehen: ägyptische Grabfunde, historische Stickereien und Gewebe, handgearbeitete Spitzen, ein nachtblaues Abendkleid von Vivien Westwood oder 160 Musterbücher mit Spitzenmotiven.

Erfunden wurde die Spitze um das Jahr 1500, um einem Wunsch der Venezianer nachzukommen: Sie wollten einen Stoff mit Nadel und Schere so zerstören, dass die Haut darunter sichtbar wird. Spitze wurde zum Statussymbol der Reichen und Mächtigen in Europa. Das belegt in der Ausstellung eindrucksvoll ein an der Wand hängendes Bild eines polnischen Malers. Es zeigt eine Szene von Johannes dem Täufer und Salomé. Martin Leuthold zeigt das Zeugnis höfischer Mode mit viel Spitze und Schmuck bewusst, um zu demonstrieren, "dass Spitze im 17. Jahrhundert immer auf farbigen Stoffen getragen wurde - und nicht wie heute auf der nackten Haut". Die erste chemisch hergestellte Farbe war Mauve (nach der Blume Malve), eine Art Violett. Sie wurde 1856 entdeckt und war damit Wegbereiter für die Basler Chemie-Industrie.

Und auch das präsentiert die Ausstellung: Im Lauf der Zeit haben sich mehrere Spitzentechniken entwickelt - Nadelspitze, Klöppelspitze, Häkelspitze, Reticella-Spitze und Point de Venice. Jede Epoche und jedes Land hat seine eigene Geschichte.

Spitze auf den Laufstegen

Von Venedig aus verbreitete sich die Spitze über ganz Europa. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verfeinerte sich in Flandern die Klöppeltechnik. Frankreich gehörte zu den wichtigsten Abnehmern von Spitze aus Venedig und Fladern. Damit einher geht auch das dunkelste Kapitel der Spitzen-Herstellung: die Kinderarbeit. Bis zu 1600 Mädchen mussten sich unter Ludwig XIV. Tag für Tag abschinden. Auch in St. Gallen gab es Kinderarbeit.

Mit den ersten maschinell hergestellten Spitzen schlägt die Stunde der Ostschweiz. Ab 1860 entsteht eine Fabrik nach der anderen. Viele Handweber und Bauern kaufen sich auf Pump eigene Maschinen, werden "Kleinfabrikanten". 1890 sind mehr als 21000 Handstickmaschinen in Betrieb. In Appenzell Ausserrhoden und im Rheintal leben viele Familien von der Stickerei und spannen die Kinder ein. "Heerscharen von Schulpflichtigen mussten bis zu zehn Stunden täglich - auch sonntags - zu Hause fädeln und ausschneiden", hat der Historiker Max Lemmenmeier überliefert. Für die erwachsenen Näherinnen und Klöpplerinnen ist die Stickerei ebenfalls ein Knochenjob. Monate-, manchmal jahrelang stickten die Arbeiterinnen an den Verzierungen.

1882 gelingt es schließlich einem Sticker, mit einem speziellen Ätzverfahren einen gestickten Stoff so zu zerstören, dass nur noch die Stickerei übrig blieb. Das Endprodukt war die perfekte Imitation und damit wesentlich billiger als eine Originalspitze. Schnell wollte die ganze Welt solche Guipure-Spitze, wie man die Ätz-Stickerei fortan nannte. Leuthold: "Endlich konnten sich auch die normalen Bürger eine Spitze leisten."

Auf den Laufstegen ist Spitze noch immer zu Hause

1913 schließlich steht die Stickerei an der Spitze der Schweizer Exporte. St. Gallen baut Stickereipaläste, die auf die Namen Pacific oder Ocean getauft werden. Sie sind noch heute im Zentrum der Stadt zu sehen. Auch die vielen Erker an den Häusern zeugen vom Reichtum, den es einst gab.

Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Fast alle Stickerei-Maschinen werden demontiert. Es gibt unzählige Arbeitslose. Nach Kriegsende macht die "neue Einfachheit" in der Mode der Spitze endgültig den Garaus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt die Haute Couture sie neu.

Heute dominieren die filigranen Erzeugnisse St. Gallens den Weltmarkt nicht mehr. Aber auf den Laufstegen in Paris und Mailand ist die Spitze trotzdem noch zu Hause. Und seit Beginn der Haute Couture in den 1940er Jahren schauen die großen Modedesigner nach wie vor in St. Gallen vorbei.

Auch Michelle Obama hat ein Faible für das Edle. Bei der Vereidigung ihres Mannes zum US-Präsidenten trug sie ein Kleid aus St. Galler Spitze. Die kubanische Designerin Isabel Toledo hatte bei der St. Galler Textilfirma Forster Rohner AG 14 Meter Stoff mit Guipure-Spitze in der Farbe "Zitronengras" bestellt. Nun fiebert die Ostschweiz der Hochzeit von Kate Middleton mit Prinz William entgegen. Die Frage aller Fragen lautet: Wird Kate ein Kleid mit St. Galler Stickerei tragen?

Die Ausstellung "StGall – Spitzengeschichte" läuft im St. Galler Textilmuseum bis zum 30. Dezember. Vadianstraße 2. Tel. +41 (0)71 222 17 44, Öffnungszeiten täglich 10–17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr.