Ein neues Medikament, das Heilung verspricht, sollte auch angemessen bezahlt werden, fordert Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Foto:  

Ein neues Medikament, das Heilung verspricht, sollte auch angemessen bezahlt werden, fordert Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Er warnt vor teuren Scheininnovationen, die Patienten nicht besser helfen als altbewährte und günstigere Mittel.

Stuttgart - Herr Ludwig, neue Wirkstoffe gegen Hepatitis C sorgen derzeit für mehr oder weniger euphorische Schlagzeilen. Zu Recht?
Die Medikamente, die jetzt nach und nach auf den Markt kommen zur Behandlung der chronischen Hepatitis C, stellen sicher einen therapeutischen Fortschritt dar. Es handelt sich ja nicht nur um das Medikament Sovaldi mit dem Wirkstoff Sofosbuvir, sondern es gibt weitere neue Medikamente gegen chronische Hepatitis C. Wir werden aber noch einige Zeit brauchen, um herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt des natürlichen Verlaufs der Erkrankung und in welcher Kombination wir diese neuen Medikamente einsetzen, um einen maximalen Nutzen für Patienten zu erzielen. Am Ende steht dann hoffentlich die Heilung der chronischen Hepatitis C.
Wie steht es um Fortschritte bei anderen Krankheitsbildern?
Die Pharmabranche litt jahrelang unter einer auffälligen Produktivitätskrise. Die scheint nun vorüber zu sein. Im vergangenen Jahr wurden in Europa 49 und in den USA 41 neue Wirkstoffe zugelassen, eine beachtliche Zahl. Es gibt erstmals seit vielen Jahren neue Wirkstoffe gegen die multiresistente Tuberkulose, eine lange vernachlässigte Infektionskrankheit. Auch gegen HIV gibt es interessante neue Kombinationspräparate. Und wir machen kleine Fortschritte in der Krebsbekämpfung. In den letzten Jahren wurden die meisten der neu zugelassenen Wirkstoffe für onkologische Anwendungsgebiete entwickelt.
Welche Fortschritte sind das?
Ein wichtiger Trend in der Onkologie, der derzeit intensiv verfolgt wird, ist die individualisierte Medizin. Sie zielt darauf ab, anhand ganz bestimmter genetischer Merkmale von Tumorzellen die Wirksamkeit, Sicherheit und somit Qualität der Behandlung bei einzelnen Patienten oder Patientengruppen zu verbessern. Das ist die gute Nachricht.
Und die schlechte?
Wir stehen am Anfang, und es ist noch nicht absehbar, wie groß der therapeutische Fortschritt durch die individualisierte Medizin in der Onkologie sein wird. Trotzdem sind bereits heute fast alle Arzneimittel, die für individualisierte Therapiestrategien zugelassen werden, exorbitant teuer. Inzwischen liegen die Jahrestherapiekosten in der Onkologie für neue Wirkstoffe zwischen etwa 50 000 und mehr als 100 000 Euro pro Patient. Oder nehmen Sie Hepatitis C: Es gibt in Deutschland weit mehr als 200 000 Menschen mit chronischer Hepatitis C. Wir werden in unserem Gesundheitssystem die allein für die Behandlung dieser Krankheit anfallenden Kosten für neue Wirkstoffe – wir reden von mehreren Milliarden Euro – kaum finanzieren können.
Was heißt das?
Es stellt sich dann schon die Frage, ob wir akzeptieren sollen, dass durch diese neue Preispolitik der pharmazeutischen Unternehmer sehr viel Geld aus unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem herausgepresst wird. Aber es gibt noch ein weiteres Manko.
Welches?
Die meisten der neuen Wirkstoffe, vor allem zur Behandlung von Krebserkrankungen, sind hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Sicherheit unzureichend geprüft. Zum Zeitpunkt der Zulassung müssen wir uns meist mit nur einer aussagekräftigen Studie begnügen, die zudem fast immer vom pharmazeutischen Unternehmer gesponsert wurde.
Warum reagiert die Politik nicht?
Die Politik hat dieses Problem bisher nicht richtig erkannt. Sie hat zwar 2010 ein neues Gesetz verabschiedet, das die sogenannte frühe Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel vorschreibt. Ziel des Gesetzes war zum einen, dass die Kosten von Spezialpräparaten nicht weiter steigen. Das wurde teilweise auch erreicht. Die Arzneimittelpreise für Spezialpräparate haben sich inzwischen in Deutschland an den europäischen Durchschnitt angeglichen. Aber das Gesetz sollte zum anderen auch die Qualität der Arzneimittelversorgung verbessern.
Was ist damit?
Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass wir aus der frühen Nutzenbewertung die richtigen Konsequenzen ziehen – und bei Arzneimitteln, deren Nutzen wir nicht bewerten können oder deren Nutzen noch nicht erkennbar ist, weitere und vom Hersteller unabhängige klinische Studien durchgeführt werden. Diese klinische Forschung nach Zulassung muss zumindest teilweise auch aus öffentlichen Geldern finanziert werden. Doch dafür gibt es kein Geld.
Wann und wieso greifen Ärzte zu einem Mittel, deren Nutzen sie nicht bewerten können?
Sie müssen die Realität in der Praxis sehen. Niedergelassene Ärzte, aber auch Klinikärzte werden überwiegend von Arzneimittelherstellern mit Informationen zu neuen Arzneimitteln versorgt. Fast täglich erhalten sie kostenlose Zeitschriften, die weitgehend von der Pharmaindustrie finanziert werden. Darin ist von ärztlichen „Meinungsführern“ oder Medizinjournalisten leicht verdaulich aufbereitet, was für großartige Ergebnisse mit diesem oder jenem neuen Medikament erzielt werden können. Ärzte, die sich wirklich unabhängig informieren oder die sogar die Originalstudien zu neuen Arzneimitteln lesen, was mitunter sehr viel Zeit erfordert, sind in der Minderheit. Die Mehrheit ist dem Marketing der pharmazeutischen Unternehmer ausgeliefert – und damit nicht selten der Desinformation. Deshalb neigen sie auch dazu, ein neues Arzneimittel häufig als das bessere anzusehen.
Aber was ist dann die Zulassung wert, die jedes neue Mittel ja durchlaufen muss?
Die Zulassung ist nur der erste Schritt im Lebenszyklus eines Arzneimittels. Sie bedeutet keineswegs, dass dieses neue Arzneimittel besser ist als ein therapeutisch vergleichbares Medikament, das sich bereits seit Jahren auf dem Markt befindet. Neu bedeutet bei der Mehrzahl der neuen Arzneimittel nicht besser. Ärzte sollten sich verstärkt unabhängig über Vor- und Nachteile neuer Wirkstoffe informieren.
Warum sind neue Medikamente teilweise so absurd teuer?
Die Hersteller verweisen meist auf sehr hohe Kosten für Forschung und Entwicklung. Das muss man jedoch kritisch hinterfragen. Die Preise für neu zugelassene Krebsmedikamente orientieren sich fast immer an den Preisen vergleichbarer Arzneimittel und nicht an den Entwicklungskosten. Große Firmen kaufen zum Beispiel immer wieder für viel Geld kleine Firmen auf, die interessante Produkte in der Pipeline haben und mitunter aus akademischen Forschungslabors hervorgehen. Das bedeutet, dass ein Teil der vorklinischen Forschung auch aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde.
So wie Gilead, das 9,7 Milliarden Euro gezahlt hat für das Unternehmen Pharmasset, welches den Hepatitis-C-Wirkstoff entwickelt hat.
Richtig. Was Gilead selbst noch in die klinische Erforschung von Sovaldi investiert hat, ist wenig transparent. Tatsache ist, dass Gilead bereits in den ersten drei Quartalen des Jahres 2014 fast 5,3 Milliarden Euro Umsatz gemacht hat. Spätestens nach zwei Jahren werden also die Investitionen eingespielt sein. Das ist bei den meisten sehr teuren Arzneimitteln so. Und dann wird über acht oder zehn Jahre, bis das Patent abläuft, richtig viel Geld verdient. Im Fall Sovaldi wird der hohe Preis mit einem hohen individuellen medizinischen Wert begründet. Pro Patient fallen Kosten je nach Therapiedauer von 60 000 bis 120 000 Euro an. Damit stößt unser Sozialversicherungssystem über kurz oder lang an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit.
Sind solche Preise unmoralisch?
Wenn ein pharmazeutischer Unternehmer als erster mit einer echten Innovation, die durch Ergebnisse guter klinischer Studien belegt ist, auf den Markt kommt, dann sollte er dafür auch einen Bonus erhalten. Zumal bei einem Arzneimittel, das die Chance auf Heilung bietet. Ob das für Sovaldi zutrifft, werden wir in einigen Jahren sehen. In der Onkologie allerdings ist seit Jahren erkennbar, dass fast keines der neuen Arzneimittel eine echte Heilungschance bietet und die Relation zwischen marginalem Nutzen und Preis nicht stimmt. Trotzdem sind die Therapiekosten ähnlich hoch wie bei Sovaldi. Dagegen sollten wir Ärzte vernehmlich protestieren. Leider geschieht dies derzeit fast nur in den USA.
In Deutschland hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Versuche gegeben, die Preisentwicklung bei Arzneimitteln zu bremsen. Wie erfolgreich war das?
Die gesetzgeberischen Maßnahmen wirken häufig nur wenige Jahre. Dann steigen die Preise wieder. Angesichts der hohen Preise für beispielsweise onkologische Wirkstoffe werden wir auch in Deutschland ohne wissenschaftlich fundierte Kosten-Nutzen-Bewertungen die Preisentwicklung nicht bremsen können.
Aktuell dürfen Hersteller für neue Medikamente im ersten Jahr den Preis selbst festlegen, nach einem Jahr dann müssen sie mit den Kassen über den Preis verhandeln. Lädt diese Regelung nicht zum Missbrauch ein?
Diese Regelung war von Beginn an heftig umstritten, aus meiner Sicht zu Recht. Es hat sich gezeigt, dass im ersten Jahr nach Zulassung überhöhte Preise verlangt werden für Medikamente, die keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen bringen. Aktuell wird deshalb heftig diskutiert, ob eine Rückwirkung des nach einem Jahr ausgehandelten Erstattungsbetrags ab dem ersten Tag des Inverkehrbringens eines neuen Medikaments erforderlich ist. Aus Sicht des Spitzenverbands der Krankenkassen als Kostenträger halte ich es für legitim, dass ein am Zusatznutzen ausgerichteter Preis von Anfang an gilt. Wir sind schließlich eines der wenigen Länder in Europa, die nur eine Nutzenbewertung für Arzneimittel durchführen. Anderswo spielen auch ökonomische Gesichtspunkte wie eine Kosten-Nutzen-Bewertung eine viel größere Rolle. Das ist für pharmazeutische Unternehmer weit weniger angenehm.
Hersteller könnten reagieren und bestimmte Arzneimittel vom deutschen Markt zurückziehen. Das geschieht ja bereits.
Ja, in bisher neun Fällen haben Hersteller den Vertrieb ihrer neuen Medikamente in Deutschland eingestellt, weil sie mit den Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses oder den Erstattungsbeträgen nicht zufrieden waren. Dies ist jedoch keineswegs ein alarmierendes Signal, wie von einigen Politikern behauptet, da es sich um Medikamente handelt, für die gut geprüfte und bereits längere Zeit im Markt befindliche Alternativpräparate zur Verfügung stehen. Eine qualitativ gute Arzneimittelversorgung unserer Patienten ist deshalb nicht gefährdet.