Mehr Überwachung oder mehr Sicherheit? In Berlin hat ein Versuch begonnen, bei dem in einem Bahnhof mit spezieller Software Fahrgäste erkannt werden sollen. Foto: Bundespolizei

Privatsphäre darf nicht Geschichte werden – der Versuch zur Gesichtserkennung am Berliner Südkreuz öffnet eine Tür in eine gefährliche Welt, findet unsere Kommentatorin Eva Wolfangel.

Berlin - Es gibt viele gute Argumente für die Überwachung öffentlicher Räume mit Kameras: Potentielle Straftaten werden dokumentiert, allein das schreckt Täter ab. Erste Forschungsprojekte zeigen, dass auch die so genannten Bodycams der Polizei einen präventiven Charakter haben. In Berlin hebt man nun diese Überwachung per Kamera auf eine neue Stufe – und das birgt Gefahren. Die smarten Geräte am Bahnhof Südkreuz können nicht nur filmen, sie sind auch mit einer besonderen Technik ausgestattet: sie können Gesichter erkennen und zuordnen. Füttert man sie also mit entsprechendem Material – Portraitfotos und zugehörige Namen – können sie im Idealfall erkennen, wer sich gerade in ihrem Blickfeld aufhält und dessen Bewegung verfolgen.

Noch ist unsicher, wie gut die Technologie tatsächlich funktioniert: das wird im Pilotversuch mit freiwilligen Probanden getestet. Sollte sie gut funktionieren, ist es künftig theoretisch möglich, alle Reisenden zu erkennen und deren Bewegungen zu verfolgen. Theoretisch – denn dafür müssten überall Kameras installiert sein und dafür müssten die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Doch der erste Schritt ist getan: kürzlich wurde das Personalausweisgesetz geändert. Ermittlungsbehörden haben nun Zugriff auf die Fotos der Meldestellen, und dort ist von jedem Bundesbürger ein Portraitfoto hinterlegt: das aus seinem Ausweis.

Was für tolle Möglichkeiten?

Man könnte jubeln und sagen: was für tolle Möglichkeiten! Mit diesen Technologien kann man künftig die Bewegungen aller Bürger verfolgen! Es gibt weniger Straftaten, wenn alle wissen, dass sie permanent beobachtet werden. Entführte Kinder werden schnell gefunden, Täter leicht überführt. Diese Zukunftsvision entstammt dem Bestseller „The Circle“. Und sie kippt gegen Ende des Romans Seite um Seite. Nach und nach wandelt sich die transparente Gesellschaft in totalitäre Überwachung, der keiner entkommen kann. Nur: wann kippt es genau? Wann wird aus diesen ganzen vordergründig guten Motiven eine ethisch bedenkliche Anwendung?

Wann kippt es am Berliner Südkreuz? Experten warnen immer wieder: wenn solche Technologien erst in der Welt sind, werden sie früher oder später auch anders eingesetzt als ursprünglich beschlossen. Die Gründe dafür können vielfältig sein: durch einen Terroranschlag schlägt die öffentliche Meinung um, und auf einmal werden alle Bedenken rund um die Privatsphäre weggewischt. Die Erfahrung zeigt: Sicherheitsgesetze werden derzeit immer nur verschärft – nie aber gelockert. Die perfekte Sicherheit werden wir dennoch nicht erreichen – aber wenn wir so weitermachen, ist die Privatsphäre bald Geschichte. Noch wäre es illegal, Bewegungsprofile aller Bürger zu erstellen. Doch es wird ermöglicht dank solcher Technologien, wie sie in Berlin nun erprobt werden. Wer weiß, wann jemand daran Interesse hat? Wann ein Diktator diese Möglichkeiten entdeckt? Wann Hacker sich ihrer bemächtigen?

Die gute Nachricht: wir müssen nicht auf die neuen Technologien verzichten. Wissenschaftler haben verschiedene Möglichkeiten erarbeitet, wie die öffentliche Sicherheit mittels Kameras überwacht werden kann und gleichzeitig die Beeinträchtigung der Privatsphäre verringert wird. Eben jene Technologie der Gesichtserkennung kann genau dafür genutzt werden: so ist es technisch möglich, dass eine Kamera erkennt, ob es sich bei einem Passanten um einen gesuchten Straftäter handelt – und dass erst dann eine Aufnahme gestartet wird. Alle anderen Personen werden nicht gefilmt. Solche Technologien sind aufwendiger. Sollte uns unsere Privatsphäre aber wichtig sein, ist das aber der einzige Weg.

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