Wendepunkt für viele westliche Demokratien: Die Anschläge von New York und Washington am 11. September 2011. Seitdem gilt die Frage: Wie viele Terrorismusopfer verträgt ein Land, bevor es Menschenrechte in Frage stellt. Foto: dpa/Hubert Boesl

Der Kampf gegen das Phänomen des Terrorismus bringt vor allem westliche Demokratien in eine Zwickmühle. Sie müssen fortwährend entscheiden: Wie viel Menschenrechte sind ein Menschenleben wert?

Stuttgart - Der erste Terrorist war eine Frau: Gegen 19.30 Uhr am 13. Juli 1793 zog Charlotte Corday d’Armont in Paris ein 20 Zentimeter langes Küchenmesser aus ihrem Dekolleté und stach es dem französischen Revolutionsführer Jean Paul Marat in die Brust. Lunge, linke Herzkammer und die Aorta wurden zerfetzt, nur noch der Holzgriff habe aus dem Arzt und Politiker geragt, stellten die Richter des Revolutionstribunals fest. Wie auch dies: Bereits vier Monate zuvor hatte Corday sich einen Reisepass besorgt, um aus der Normandie in die Hauptstadt zu reisen. Sie besorgte sich ein Empfehlungsschreiben, um zu Marat vorgelassen zu werden. Die Tatwaffe kaufte sie am Anschlagstag in Paris, um bis dahin bei Kontrollen nicht aufzufallen. Als Motiv für die Bluttat vermuten Historiker heute, Corday habe habe dem Blutregime der herrschenden Jakobiner ein Ende setzen wollen.

Dilemma westlicher Demokratien

Ein „patriotischer Akt, um den Frieden wiederherzustellen“, wie sie selbst sagte, bevor sie unter der Guillotine den Kopf verlor. Es ist das erste Beispiel für das, was heute Terrorismus genannt wird – wenn Historiker auch darüber trefflich streiten: Einige sehen bereits in den Aufständen der Zeloten und Sicarii gegen die Römer im damaligen Judäa um 70 nach Christus die Vorreiter dessen, was heute Terrorismus genannt wird.

Um die 180 Definitionen existieren aktuell – keine einzige ist allgemein gültig, geschweige denn akzeptiert. Gerade zwischen Freiheitskampf und Terrorismus sind die Grenzen fließend. 2006 definierte die Bundesregierung Terrorismus als „extremes politisches Kampfmittel. Eine Strategie des Kampfes, die Staatsgewalt herauszufordern und dadurch Solidarisierungswellen“ in der Bevölkerung zu erzeugen. Unmittelbares Ziel des Terrorismus „ist nicht der Sieg, sondern die Verbreitung von Schrecken und Furcht“.

Gewalt, politisches Motiv, Verbreitung von Schrecken und Furcht – diese drei Elemente haben die meisten Definitionen gemeinsam. Und auch darüber besteht Einigkeit: Terrorismus entwickelt sich weiter. Einen „rasanten Wettkampf um Methoden, Ziele und Meinungen vor allem zwischen Terrororganisation“, hat der israelische Terrorismusexperte Eitan Azani als Motor dafür erkannt. Ein Wettkampf, in dem Ermittler oft die Verlierer sind.

Keine technische Entwicklung, die von Terroristen nicht sofort darauf geprüft wird, ob und wie sie für Attentate zu verwenden ist: Längst gehören zu bewaffneten Drohnen umgebaute, handelsübliche Fluggeräte zum Waffenarsenal des Islamischen Staates, von Al-Kaida und Rechtsterroristen. Auf eine Bedrohung durch zeitgleich an mehreren Orten ausgeführten Anschläge ist Deutschland so gut wie nicht vorbereitet. „Oft bleibt uns neben moderner Ausrüstung und dem entschlossenen Willen der Polizisten nur die operative und taktische Überraschung in der konkreten Bekämpfung von Terroristen“, sagt der frühere Kommandeur der Anti-Terroreinheit GSG-9, Friedrich Eichele.

Deutsche im syrischen Folterknast

Terrorgruppen früh zu erkennen, zu unterwandern, Anschläge zu verhindern, damit tun sich gerade europäische Staaten schwer. Meist sind es Hinweise von US-Nachrichtendiensten, mit denen Attentate in Deutschland und Europa verhindert werden. „Die Blutspur islamisch motivierter Terroristen in Europa wäre ohne die viel gescholtenen USA breiter und flüssiger“, ist Azani überzeugt.

Schnell wird in westlichen Demokratien kritisiert, dass „die Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus geopfert werden“ (Amnesty International), deren Geheimdienste Informationen auch mit denen in Autokratien und Diktaturen austauschen. Gleichzeitig wird nach Anschlägen wie in Paris 2015 oder dem Berliner Breitscheidplatz 2016 der Ruf laut, „die nationale wie internationale Sicherheitsarchitektur dem Anspruch anzupassen, Anschläge zu verhindern und Opfer zu vermeiden“ (französisches Parlament). Nahezu „unvereinbare Konfliktpositionen in einer gesellschaftlichen Debatte“ für Eichele, der die Frage zuspitzt: „Wie viel Menschenrechte ist ein Menschenleben wert? Wo hört der Schutz von Rechten auf, wo fängt der von Opfern an?“ Anders ausgedrückt: Durfte der damalige Kanzleramtsminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ermittler des Bundeskriminalamtes in einen syrischen Folterknast schicken, um einen von den USA verschleppten, mutmaßlichen deutschen Terroristen befragen zu lassen?

Deutschland hat sich bislang im Kampf gegen Terror meist für die Stärke des Rechtsstaates und die Bevorzugung der Menschenrechte entschieden. Aber: Im Vergleich zu den USA, Frankreich, England und Spanien wurde Deutschland vergleichsweise sanft terroristisch attackiert. „Die Frage, welchen Weg sich eine Nation im Anti-Terrorkampf nimmt, hängt entscheidend davon ab, ob und wie stark der Einzelne betroffen ist und wie viele Opfer ein Land verkraften kann und will“, stellt Azani sachlich fest.