Das Militär zeigt sichtlich Präsenz in der belgischen Hauptstadt Foto: dpa

Belgiens Hauptstadt hat ein großes Problem mit der Kriminalität. Schon 2009 und 2010 griffen Einwohner Polizeiwagen mit Molotowcocktails und Steinen an. Warum Brüssels soziale Brennpunkte zu Terror-Nestern wurden.

Brüssel - Der Besucher könnte von dem bunten Lokalkolorit gefangen sein. Marokkanische Schmuckhändler neben kongolesischen Lebensmittelgeschäften, asiatische Lokale Seite an Seite mit afrikanischen Import-Export-Läden. Es riecht wie auf einem orientalischen Basar – die Szenerie spielt in Brüssel, in einem jener Stadtviertel, in die sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mal die Polizei hineintraut.

Es sei denn, sie kommt mit Spezialeinheiten. Wie am vergangenen Donnerstag, wenige Minuten nachdem im ostbelgischen Verviers zwei Dschihadisten getötet worden waren. Da stürmten die Sicherheitskräfte auch in den Brüsseler Gemeinden Molenbeek und Anderlecht Wohnungen, beschlagnahmten ein Waffenarsenal, mit dem man einen Krieg hätte führen können.

„Mit so was habe ich gerechnet“, sagt Jean. Der 73-Jährige hat hier gewohnt, ehe er „aus Angst“ weggezogen ist. „Jahrelang hat die Polizei nichts gemacht. Jetzt darf man sich nicht wundern, dass sie ausgerechnet hier Terroristen findet.“ 2009 und 2010 griffen im westlichen Molenbeek Einwohner Polizeiwagen mit Molotowcocktails und Steinen an. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie drei Männer einen anderen niedergestochen haben“, erzählt die 62-jährige Claudine, die in der berüchtigten Rue Heyvaert wohnt, weil „ich mir nichts anderes leisten kann“.

Brüssel hat ein Problem: die beiden Parallelwelten. Auf der einen Seite die wohlhabende, reiche Welt aus Politik, Beamten, Lobbyisten rund um die Nato-Zentrale und die EU-Institutionen. Auf der anderen Seite nicht selten unmittelbar daneben die verfallenen Häuser, in denen Menschen aus dem Kongo, aus Marokko, aus asiatischen Ländern regelrecht hausen. Wo die Arbeitslosigkeit grassiert und Armut zu Hause ist.

In der Brüsseler Gemeinde Anderlecht riet die Polizei zeitweise den Anwohnern, die Häuser möglichst wenig zu verlassen, um Einbrüche zu verhindern. Besuchern empfehlen die Sicherheitsbehörden der Hauptstadt noch heute, beispielsweise die Stadtviertel zu meiden, die an den internationalen Bahnhof Gare du Midi grenzen, wo sich Schiiten und Sunniten regelmäßig blutige Auseinandersetzungen liefern. Bisher galten diese Ecken als Hort der Kriminalität, wo man auch Waffen aller Art und gefälschte Papiere kaufen konnte. Nun weiß man: Hier verstecken sich auch Terror-Zellen.

Das Entstehen der sozialen Brennpunkte hat die Stadt sicherlich nicht gewollt, aber dennoch zugelassen. Ein Sozialarbeiter in diesen Stadtteilen sagt offen: „Der soziale Mix wird immer gefährlicher. Wohlhabendere ziehen in ärmere Viertel, dann wird luxussaniert, aber es gibt keinen Ersatz.“ Laut Gesetz muss, wer den Büroraum vergrößert, zum Ausgleich entsprechende Wohnungsflächen schaffen. Aber: „Das ist nie passiert.“

Für den Bau des Europäischen Parlamentes hätten allein bis zu 40 000 Wohnungen gebaut werden müssen. Es entstand keine einzige. So drängen neue Hotels und Bürogebäude erschwinglichen Wohnraum immer weiter zurück. Mit dem Ergebnis, dass soziale Brennpunkte nicht beseitigt, sondern verdichtet werden. Jobs gibt es für diese Menschen auch nicht.

„Die Bilanz“, so sagen belgische Sozialforscher, „sind Menschen, die anfällig werden für radikale Botschaften.“ Auch das hätte man wissen können. Seit Monaten findet vor einem Antwerpener Gericht ein Verfahren gegen 46 Mitglieder der Gruppe Sharia4Belgium statt. Ihr wird vorgeworfen, im großen Stil Kämpfer für den Islamischen Staat (IS) angeworben zu haben. Von mehreren Hundert, die dem Ruf folgten, ist die Rede. Sie stammten alle aus den „verlorenen Vierteln“, wie Sozialarbeiter sie nennen. Ob sich nach den Erkenntnissen der letzten Tage etwas ändert und Belgien nicht nur 300 Soldaten zur Sicherung gefährdeter Gebäude abkommandiert, sondern auch seine sozialen Defizite bekämpft, ist nicht absehbar.