Foto: dpa

Sind die Anschläge von Wien und Frankreich der Beginn einer neuen Welle islamistischen Terrors in Europa? Sicherheitsexperten warnen vor einer unverminderten Bedrohung.

Berlin - Lange wurde der islamistische Terror als größte Gefahr für die Sicherheit in Europa betrachtet: In den Jahren 2015 bis 2017 fielen mehr als 300 Menschen dschihadistischen Attacken zum Opfer. Dazu gehörten die Terroranschläge auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, aber auch der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Nach der Zerschlagung der Basis der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und im Irak ebbte die Gewalt ab. Aber Experten warnen weiter vor der Bedrohung durch Islamisten.

Wie hat sich islamistischer Terrorismus in Europa entwickelt?

Die Zahl der Opfer islamistischen Terrors ist laut Europol seit 2015 kontinuierlich zurückgegangen. Allerdings variiert die Entwicklung von Land zu Land. Im vergangenen Jahr hatte jeder sechste der 119 in der Statistik als „durchgeführt oder vereitelt“ festgehaltenen Terroranschläge in der EU einen dschihadistischen Hintergrund. Lediglich drei Anschläge – in Utrecht, Paris und London - wurden vollendet, vier scheiterten und 14 Angriffe wurden vereitelt. Allerdings: Zehn Menschenleben und 26 von 27 Verletzten gingen auf das Konto von Islamisten. 2018 waren es 13 Todesfälle bei sieben Anschlägen. Europol schätzte auch schon vor der aktuellen Welle die Bedrohungslage als relativ hoch ein. Im vergangenen Jahr wurden 436 islamistische Terrorverdächtige in 15 Ländern festgenommen. Mit 202 Festnahmen liegt Frankreich weit an der Spitze.

Woher kommt der Terror?

Schon seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in USA wird politisch darüber gestritten, ob islamistischer Terror ein importiertes Problem sei oder innerhalb einer Parallelgesellschaft wachse – so genannter „homegrown terrorism“. Es gibt Beispiele für tödliche Anschläge, die von Flüchtlingen verübt werden. Der Täter des tödlichen Anschlags von Berlin, Anis Amri ist einer davon. Die Statistik von Europol weist aus, dass die terroristische Bedrohung mitten in Europa unter den Augen der Mehrheitsgesellschaft heranwächst: Mehr als 70 Prozent der Festgenommenen besaßen die Staatsangehörigkeit des jeweiligen EU-Landes. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass Terrororganisationen wie der „Islamische Staat“ Migrationsrouten systematisch nutzten. Eine besondere Bedrohung geht nach Erkenntnissen von Sicherheitsexperten von Personen aus, die in Gefängnissen innerhalb der EU radikalisiert werden. Netzwerkstrukturen bestehen demnach hauptsächlich innerhalb eines Landes, ohne organisatorische Verbindungen zu Al-Qaida oder IS.

Welche Länder in Europa sind am stärksten von islamistischer Radikalisierung betroffen?

Das Angriffsziel gewaltbereiter Islamisten ist nicht ein konkretes Land und auch nicht eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern das freiheitliche Lebensmodell der westlichen Welt. Selbst Islamisten glauben nicht, dass sie Europa in einen Islamischen Staat umwandeln können, aber Terror soll Angst verbreiten und dadurch destabilisieren, also das verhasste Lebensmodell schwächen. Besonders im Visier sind daher Metropolen und große Städte.

Ganz besonders betroffen ist seit vielen Jahren Frankreich. Seit 2015 wird das Land von einer Serie islamistischer Anschläge heimgesucht, der inzwischen mehr als 250 Menschen zum Opfer gefallen sind. Immer wieder zeigt es sich, dass die Attentäter in der Hoffnungslosigkeit der Vorstadtsiedlungen aufgewachsen sind, in denen bisweilen eine Art rechtsfreier Raum herrscht. In Frankeich gelten mehr als 10 000 Menschen als radikalisiert. Besorgt zeigen sich die Behörden darüber, dass zuletzt Attentate von Männern verübt wurden, die der Polizei völlig unbekannt waren. So erstach im Oktober 2019 ein zum Islam konvertierter Mitarbeiter der Polizei ohne Migrationshintergrund in der Pariser Präfektur vier Kollegen, bevor er erschossen wurde. Bei solchen, kaum vorherzusehenden Messerangriffen wurden in den vergangenen zwei Jahren zwölf Menschen getötet.

Aber auch Großbritannien und Spanien werden immer wieder von islamistischem Terror erschüttert. Die Briten erlebten in den vergangenen Jahren furchtbare Terroranschläge wie den Anschlag auf das Konzert von Popstar Ariana Grande in Manchester, bei dem 22 Menschen getötet wurden. Österreich ist bisher kein Hotspot, auch wenn das Land nicht gänzlich von terroristischen Anschlägen verschont war. Der österreichische Terrorismusexperte Thomas Riegler sieht das Attentat von Wien am Dienstagabend als einen Einschnitt von ähnlicher Tragweite wie das Attentat vom Breitscheidplatz, wie er dem ORF sagte. Der islamistische Terrorismus gilt auch für die deutschen Sicherheitsbehörden nach wie vor als unverändert große Bedrohung. Die Zahl der Islamisten ist laut Verfassungsschutz im vergangenen Jahr leicht auf 28 020 gestiegen.

Welche Strategien entwickeln die Länder?

Schon in den vergangenen Jahren haben viele Länder ihre Sicherheitsgesetze und ihre Ermittlungsbehörden massiv ausgebaut, auch die europäische Zusammenarbeit wurde verstärkt. Frankreich verhängte über lange Zeit einen Ausnahmezustand und verabschiedete 2017 ein wegen seiner weitreichenden Überwachungsbefugnisse umstrittenes Anti-Terror-Paket. In Deutschland existieren mehrere Terrorabwehrzentren mit unterschiedlichen Schwerpunkten, das erste war das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ), das sich auf Kampf gegen islamistischen Terrorismus konzentriert. Auf europäischer Ebene gibt es unter anderem eine Antiterrorzentrale bei Europol – aber auch eine Antiterrorgruppe, in der die Geheimdienste ihre Informationen austauschen sollen. Nach den aktuellen Attacken soll nun am 13. November bei einem Treffen der EU-Innenminister der Kampf gegen den Terror auf der Tagesordnung stehen. Die Innenminister wollen ein Registrierungsverfahren von Gefährdern an der Grenze und ein „effizientes gemeinsames Informationssystem“.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat aktuell dem „islamistischen Separatismus“ den Kampf angesagt und eine „republikanische Wiedereroberung“ von Stadtteilen angekündigt, in denen radikale Kräfte viel Einfluss haben. Die Schulen sollen dabei eine zentrale Rolle spielen, denn immer mehr Kinder aus benachteiligten Vierteln besuchen keine staatliche Schule und werden zu Hause unterrichtet – oft von zweifelhaften Predigern. Kinder ab drei Jahren dürfen in Zukunft nur noch aus gesundheitlichen Gründen zu Hause unterrichtet werden. Zudem will Frankreich die im Land tätigen Imame künftig selbst ausbilden.