In der nächsten Woche gibt Teodor Currentzis sein Antrittskonzert mit Gustav Mahlers dritter Sinfonie.. Foto: SWR

Teodor Currentzis hat ein „Überraschungskonzert“ dirigiert und sich im Gespräch vorgestellt. Seine Zeit als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters wird spannend werden – und vielleicht auch ein bisschen schrill.

Stuttgart - Er war jung damals, ein armer Musiker in Moskau, der in einer möbellosen Mansarde wohnte, durch deren Fenster nachts der Mond schien. Sie war auch jung damals, eine Schauspielstudentin. Man lernte sich kennen, man redete zwölf Stunden lang, man verliebte sich, und beim Blick auf den Mond war plötzlich von Hochzeit die Rede. Nein, nein, wehrte der arme Musiker ab, heiraten werde er gewiss nie, aber sollte sie, die Schauspielstudentin, einmal heiraten, dann werde er die vielen Musiker, die im Untergrund lebten, zu einem Orchester zusammenbringen und beim großen Fest den traurigsten Satz aufführen, den er kenne, nämlich das Finale („Der Abschied“) aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Weil alles Glück nämlich immer auch eine dunkle Seite habe.

Auch Teodor Currentzis hat zwei Seiten. Er erzählt mit leiser, tiefer Stimme; man folgt ihm ebenso gebannt, wie man es tut, wenn er dirigiert, weiler auch in der (englischen) Sprache Spannungsbögen auszubreiten und zu halten weiß. Eine Handvoll Journalisten, die der SWR zu einem kleinen Kennenlern-Treffen mit dem neuen Chefdirigenten des SWR-Symphonieorchesters geladen hat, erlebt hautnah mit, wie sehr der russisch sozialisierte Grieche die Bühne, ja, die Show liebt, dass er sich gerne reden hört. In sein langes Monologisieren fließen auch mal philosophisch wirkende Plattitüden ein („Wir haben viele Kenntnisse, aber kein Wissen“). Und mancher Satz wird derart verlängert und vergrößert, als sei er ein Notensystem mit lauter feinen Artikulationszeichen und einer wirkungsvollen Fermate am Schluss. Die Teilnehmer der Presserunde spüren aber auch die andere Seite des Teodor Currentzis. Sie ist ebenfalls immer da, sie ist wahrhaftig, meint alles aus tiefstem Herzen ernst. Und sie wird von hoher Energie gespeist.

Currentzis könnte nie etwas nur mit halber Kraft tun

Sie teilt sich mit – auf den Fluren des Funkstudios gibt es keinen Musiker und auch keinen Manager, dessen Augen nicht zu strahlen beginnen, wenn von dem 46-Jährigen die Rede ist. Der stets in Schwarz gekleidete Schlaks ist keiner von denen, die auch mal etwas mit halber Kraft tun könnten. Bei einem Konzert, sagt er, verliere er locker drei Kilo Gewicht. Diejenigen, die am Montagabend bei einem spontan anberaumten „Überraschungskonzert“ für SWR-Mitglieder, Freunde und per Los ausgewählte Abonnenten im Beethovensaal dabei waren, konnten seine physische und emotionale Verausgabung schon einmal hautnah erleben. Und außerdem ahnen, mit welchen Mitteln der Dirigent, der seine Position beim SWR-Symphonieorchester („Ich war gegen die Fusion“) als „Mission“ bezeichnet, das klassische Konzert aus der philharmonischen Routine herausholen und zu einem immer wieder neu zu (er-)findenden Abenteuer machen will.

Im Dunkeln traten die Musiker auf die Bühne, spielten im Schummerlicht ein raffiniert gemachtes zeitgenössisches Stück Musik über Musik (nämlich Marko Nikodijevics „Gesualdo Dub“ mit dem cool-souveränen Pianisten Christoph Grund als Solist). Dann gab’s Beethovens Siebte. Dass das Publikum zwischen deren Sätzen klatschte, mag etwas damit zu tun gehabt haben, dass es erst nach dem Konzert erfuhr, was auf der Bühne gespielt worden war – so könne es mal zuhören, ohne gleich alles in Schubladen einzusortieren. Sagt Teodor Currentzis am Tag darauf – und fügt hinzu, dass ihn Applaus zwischen den Sätzen im Übrigen ganz und gar nicht störe. Schließlich wolle man doch gerade die nicht Klassik-erfahrenen Zuhörer gewinnen, „sie sind die Wichtigsten!“

Man wird viel experimentieren

So wird man also experimentieren: mit Licht, mit Präsentationsformen, mit überraschenden Zugaben, mit Improvisationen (bei Barockem, am Montagabend zu hören bei einer von Currentzis selbst arrangierten Suite aus Tanzsätzen Jean-Philippe Rameaus). Mit einem Orchester, das kammermusikalisch denkt und Musik aller Stile und Zeiten spielt. Und mit Interpretationen, die Notiertes (vor allem Tempi und Dynamik) zuweilen bis ins Extreme ausreizen und vielleicht auch mal mit nicht Notiertem (zum Beispiel mit Klangfarben) spielen. Letzteres war jetzt bei Beethovens Siebter zu hören, bei der Currentzis den Musikern sogar einen immer schon falsch gespielten Rhythmus ausgetrieben haben will. Auf Roger Norringtons einst so gerühmtem „Stuttgart Sound“ will er aufbauen. Als ihn ein Musiker bei der Probe gefragt habe, ob er hier mit Vibrato spielen solle oder doch besser ohne, habe er ihm geantwortet, dass natürlich jeder, der wolle, gerne nach Herzenslust vibrieren könne – aber bitte nur bei Sechzehntelläufen.

Vibrato bei Sechzehntelläufen! Currentzis lacht, und eigentlich müsste er jetzt nicht mehr anfügen, dass das Wichtigste im Konzert für ihn die Kommunikation ist. Also die Verbindung zwischen dem Dirigenten und den Musikern („Der Musiker am letzten Pult ist genauso wichtig wie der am ersten Pult“) wie auch zwischen dem Orchester und dem Publikum. Nur wenn diese Dialoge gelängen, könne sich etwas mitteilen von der spirituellen Kraft der Musik. Und davon, dass Musik der heute so unkonzentrierten, hastenden Gesellschaft die Kraft und Ruhe einer in der Gemeinschaft erlebten besonderen Zeit entgegensetzt.

Teodor hat Hunger

Es ist aber gut, dass der Dirigent dies noch gesagt hat. Denn plötzlich begreift man, warum ihm zuvor die Erinnerung an eine Jugendliebe in den Sinn gekommen ist. Schließlich hat sich, als er das Mädchen von ehedem zwanzig Jahre später zufällig wiedertraf, alles als riesiges Missverständnis herausgestellt: Die Schöne hatte Mahlers „Abschied“ vergessen und in ihrer Erinnerung als Bossanova abgespeichert.

Aber dieses Ende ist eigentlich gar nicht wichtig, und bei genauerer Betrachtung gilt Gleiches für die Geschichte selbst. Teodor Currentzis hat sie nur erzählt, um zu erzählen. So wie er Musik auch vor allem macht, um Musik zu machen. Weil sie es ist, der seine ganze Liebe gilt.

Deshalb verlässt er schließlich das Gespräch lächelnd und mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht: weil er sich eigentlich nur dort wirklich wohl fühlt, wo er mit Musikern aus einfachen Noten überwältigende Klänge formen kann. Der Manager folgt ihm, in der Hand den Teller mit den Häppchen, von dem die Journalisten jetzt nichts mehr haben dürfen. „Teodor“, sagt der Manager besorgt, „hat heute noch gar nichts gegessen!“ Und weg ist er.