Jubel oder Häme? Kein Dirigent polarisiert so wie Teodor Currentzis – besonders mit Aufnahmen von Beethovens Sinfonien mit dem Ensemble MusicAeterna. Jetzt ist als zweite CD die Siebte herausgekommen.
Wien - Keine Meinung? Geht nicht. Schon 2018, als Teodor Currentzis bei den Salzburger Festspielen mit den Musikern seines Originalklang-Ensembles MusicAeterna sämtliche Sinfonien Beethovens aufführte, gab es nur Begeisterung auf der einen Seite und schroffe Ablehnung auf der anderen. „So klingt der Beethoven von morgen!“, titelte euphorisch die eine Zeitung; als „Salzburger Dressurakt“ oder als „grenzgenial“ bezeichneten andere die Konzerte, die überdies „mehr Hitchcock als Beethoven“ geboten hätten.
Nun bringt Currentzis, der seit 2018 als Chefdirigent die Konzerte des SWR-Symphonieorchesters zu Kultveranstaltungen macht, die einzelnen Sinfonien nach und nach in Aufnahmen heraus, die im zeitlichen Umfeld der Salzburger Aufführungen entstanden sind. Nach der fünften Sinfonie hat er nun die siebte freigegeben – als eigenständiges, mit etwa vierzig Minuten Laufzeit ziemlich kurzes Album. Andere Dirigenten veröffentlichen beide Werke zusammen. So zeigt sich das Grenzwertige, das dem russischen Griechen (oft zu Recht) unterstellt wird, schon im Äußerlichen. Aber wie grenzwertig klingt nun diese Siebte? Erster Eindruck: Nach einer ungewöhnlich verhaltenen langsamen Einleitung, bei der man der Musik im Einschwingvorgang lauscht, tut Currentzis, was man von ihm gewohnt ist: Er reizt die Extreme aus, hier vor allem über die Dynamik. Das Allegretto beginnt im akustischen Nebel. Wer den Lautstärkeregler hochdreht, weil eine Passage gerade fast unhörbar leise ist, riskiert im nächsten Moment einen Gehörschaden, denn dem ganz Leisen folgt oft sehr schnell das ganz Laute.
Currentzis nimmt den Notentext ernst – und reizt seine Extreme aus
Das hat schon etwas kalkuliert Theatralisches, passt aber sehr gut zu Beethovens Dramaturgie der musikalischen Kontraste. Die Ensemblestimmen klingen bei recht trockener Akustik sehr plastisch, man hört feine Klangmischungen und ein Hinten und Vorne im Raum. Die Bläser kommen prominenter zu Wort als andernorts, was im ersten Satz Flöte und Oboe zu wirkungsvollen und sinnstiftenden Momenten verhilft, im dritten Hörnern und Trompeten, im vierten dem Fagott.
Zerrissen zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem
Wer beim Hören die Partitur mitliest, kann ins Staunen kommen: Currentzis, der Wilde, Unkonventionelle, Exzentrische, folgt meist ziemlich genau den Metronomangaben und den dynamischen Differenzierungen. Letztere spitzt er effektbewusst und mit viel Nachdruck zu, aber er differenziert wie kein anderer fein zwischen Piano und (einem fast unhörbaren) Pianissimo, formuliert die angegebenen Crescendi präzise aus und unterscheidet sie sogar von einem „sempre più forte“ („immer lauter“). Er folgt den Artikulationsvorgaben. Die Phrasierung sitzt. Die Musik folgt einer klaren Rhetorik, spricht sehr unmittelbar – mal in weiten Bögen, mal durch kleine, hörbar polierte Details. Und steht ein „dolce“ („süß“) in den Noten, dann klingt es auch so.
Klar, dass Currentzis Wagners viel zitierte Äußerung, Beethovens siebte Sinfonie sei eine „Apotheose des Tanzes“, als persönliche Herausforderung verstehen würde. Die oft scharf akzentuierte Betonung der ersten Zählzeit im Takt, punktierte Noten wie scharfe Pfeile, schließlich wild in die Musik hineinfahrende Off-Beats im Finale: Der Rhythmus gibt hier Struktur und Wirkung vor. Sogar im zweiten, langsamen Satz. Dieser sei, zitiert das CD-Booklet den Dirigenten, eine „sakrale Choreografie“– was die Einspielung tatsächlich nachvollziehbar macht, denn sie hat kaum mehr etwas von jenem lastenden Trauermarsch, den man sonst oft an dieser Stelle hört. Das mit der „Architektur als Offenbarung des Spirituellen“ kann Currentzis gerne sagen, entscheidender ist: Dieser leichte, selbst im Langsamen tänzelnde Beethoven hat tatsächlich alles Schwere transzendiert. Und die Bögen fasst Currentzis überraschend weit. Sein Beethoven hat keine Schnappatmung.
Das ewige Dilemma
Warum also die Anfeindungen? Die Vorwürfe, dies alles sei überkünstelt und nur gewollt, nicht empfunden? Womöglich liegt das Problem gar nicht beim Dirigenten selbst, sondern im Ohr mancher Zuhörer – oder besser: in ihren Hirnen. Currentzis ist Kind einer zerrissenen Zeit, die einerseits (immer noch) dem Fetisch der sogenannten Werktreue huldigt, also Genauigkeit und historisches Wissen bei der Interpretation einfordert, sich andererseits aber auch nach Helden sehnt, die alles ganz neu, anders und auf einzigartige Weise tun – vor allem, wenn sie häufig aufgenommene Werke noch einmal herausbringen. Currentzis selbst stilisiert sich gerne als ein solcher Heros – oder wird zumindest als ein solcher verkauft. Das vollkommen Unerhörte jedoch gibt es nicht mehr. Die historisch informierte Aufführungspraxis war die letzte Revolution der klassischen Musik, ihre aufregenden neuen Erzählstrategien sind heute schon Gewohnheit.
Interpreten unserer Tage sind im Kreuzfeuer – und im ewigen Dilemma. Wer könnte gleichzeitig Grenzen wahren und Grenzen überschreiten? Wer sowohl ordentlich als auch außerordentlich sein? Was den einen Zuhörer bezaubert, provoziert den anderen. Die einzigen Kriterien, die für beide gelten, sind die Qualität der Ausarbeitung, die Stimmigkeit des Dargebotenen und die Energie, die aus der Begegnung von alter Kunst und neuem Zugriff erwächst. All dies erlebt man bei Currentzis’ Siebter. Sie wartet mit durchdachten, ausbalancierten Proportionen auf wie mit feinen Klangdelikatessen, sie nimmt das Notierte ernst und wirkt in ihrer Art der Zuspitzung hochspannend. Ob so der Beethoven von morgen klingt? Falsche Frage. So klingt er heute.
Currentzis und Beethoven
Künstler Teodor Currentzis, geboren 1972 in Athen und ausgebildet in Russland, ist seit 2018 Chefdirigent des in Stuttgart ansässigen SWR-Symphonieorchesters. Außerdem leitet er das auf historischen Instrumenten spielende Ensemble MusicAeterna, das er in seiner Zeit als Chefdirigent der Oper von Novosibirsk (2004–2010) gründete und anschließend als Musikdirektor der Oper Perm (bis 2019) zum Hausorchester machte. MusicAeterna residiert heute in St. Petersburg.
Album Teodor Currentzis und MusicAeterna: Beethoven, Sinfonie Nr. 7. Sony.