Die Telefonseelsorger haben ein offeneres Ohr. Foto: Steinert

Wer antwortet eigentlich, wenn man die Telefonseelsorge anruft? Martin Schneider aus Vaihingen heißt in Wirklichkeit anders, ist aber einer der Seelsorger, die für „Ruf und Rat“ arbeiten. Er erzählt von seinen Erfahrungen.

Vaihingen - Bevor Martin Schneider die Telefonleitung freischaltet, sammelt er sich. Jedes Mal, obwohl er seit vielen Jahren für die Telefonseelsorge „Ruf und Rat“ der katholischen Kirche in Stuttgart arbeitet. Schneider setzt sich an seinen Telefonplatz, schlägt seine schwarze Kladde auf und liest noch mal die Grundsätze durch, auf die es gleich ankommen wird. Erstens: keine Ratschläge geben, sondern Empathie zeigen. Zweitens: die Stimmung des Anrufers aufnehmen. Drittens: sich in seine Gefühle hineinversetzen. Viertens: „Ich muss mich während meiner Schicht vollkommen zurücknehmen“, sagt Schneider. Erst wenn er das gelesen hat, fängt er an und nimmt den Hörer ab. „Telefonseelsorge, guten Tag.“ Schneider hat eine ruhige, dunkle, leicht raue Stimme, der man gerne zuhört.

Schneider kam zufällig zur Telefonseelsorge

Seit vier Jahren übernimmt der Vaihinger, früher Ingenieur im IT-Bereich, ehrenamtlich einmal in der Woche eine Schicht in der Telefonzentrale in der Stuttgarter Innenstadt. Schneider, Anfang 70, heißt in Wirklichkeit anders. Aber bei „Ruf und Rat“ bekommen nicht nur die Anrufenden Anonymität zugesichert, sondern auch die Seelsorgenden. Deswegen ist Schneider gehalten, wenig über sich preiszugeben, nur so viel: „Als Rentner war ich auf der Suche nach einer ehrenamtlichen Aufgabe.“ Zur Telefonseelsorge kam er durch Zufall. „Ein neuer Vorbereitungskurs war ausgeschrieben.“ Schneider meldete sich, erfüllte die Kriterien und hat sich ein Jahr lang für sein Ehrenamt ausbilden lassen. Bereits zu Beginn seines Berufslebens hatte er sich intensiv sozial engagiert.

Es gibt Themen, die die Anrufenden immer wieder ansprechen. Einsamkeit, ist ein Dauerbrenner, besonders für die älteren. Nicht wenige Anrufer wollen konkrete Hilfe in Fragen des Alltags, einige rufen deswegen unterwegs, vom Handy in der Stadtbahn an. „Muss ich die Rechnung jetzt bezahlen, oder geht es auch später?“, wird Schneider gefragt. Viele Anrufer sind psychisch krank, viele leben in prekären Verhältnissen. „Aber ich würde nicht sagen, dass sie die Mehrheit der Anrufer stellen“, sagt Schneider. Denn ein anderes großes Themenfeld der Telefonseelsorge, Beziehungsprobleme, zieht sich durch alle sozialen Schichten.

Es suchen mehr Frauen den Rat

Es sind eher Frauen, die Rat bei der Telefonseelsorge suchen. Vielleicht zwei Drittel der Anrufer, schätzt Schneider, sind weiblich. Noch ein großes Thema ist Angst. Einmal hat Schneider eine ganze Stunde lang mit einer Frau gesprochen, die gerade aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden war. Sie bekam ihre Tabletten morgens und abends von einem Pflegedienst geliefert. Die Frau rief eine Stunde vor dem Eintreffen des Pflegedienstes an und hatte panische Angst, dass dieser nicht kommen könnte. „Eine irrationale Angst, aber für die Frau war sie vollkommen real.“ Schneider hat sie am Telefon durch diese Stunde begleitet.

Allerdings: „So lange Anrufe sind ein Ausnahmefall.“ Zwar befänden sich die meisten Anrufer in einer akuten Notsituation, aber eigentlich soll ein Gespräch nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Dann ist der nächste dran. Mehr als zehn Minuten muss Schneider in der Regel nicht warten, bis das Telefon wieder klingelt.

Manche rufen täglich an

Manche Anrufer wollen gar nicht lange sprechen, rufen dafür aber immer wieder an, mitunter täglich. In der Regel gelingt es Schneider nach vier Jahren gut, die Anrufe nicht zu nahe an sich heran zu lassen. Aber ein Fall berührt ihn dennoch stärker, als ihm lieb ist. „Ein Mann, der seit mehr als vier Jahren anruft. Er hat sonst niemanden zum Reden“, schildert Schneider. „Ich sehe, wie es ihm immer schlechter geht, kann aber nichts dagegen tun“, sagt Schneider.

Manchmal melden sich Menschen, die ihren Selbstmord ankündigen. Schneiders Erfahrung: Wer lauthals damit droht, ist oft weniger gefährdet, als derjenige, der seine Absicht sachlich bekannt gibt. Er erinnert sich an ein Gespräch mit einer jungen Frau, die sich, so glaubt er, wirklich umbringen wollte. „Ich kann Sie nicht davon abhalten“, hat Schneider ihr gesagt. „Aber überlegen Sie, ob Sie nicht doch noch eine andere Lösung finden.“ Am Schluss hatte der 70-Jährige den Eindruck, dass er die Frau von ihrem Entschluss hatte abbringen können. „Zumindest glaube ich, dass sie ihrem Leben nicht sofort danach ein Ende gesetzt hat.“ Eine Gewissheit, wie es weitergeht, hat Schneider nie. Dennoch: Solche Momente bedeuten ihm viel. „Man muss sich während der Telefonschichten viel anhören. Aber man bekommt auch viel zurück.“