Choreografie „Tauberbach“ im Schauspielhaus Foto: van der Burght

Im Grenzgebiet von Sprache, Gesang und Bewegung bewegt sich eine Frau, die seit Jahrzehnten krank auf einer Müllkippe lebt. In dem Tanzstück „Tauberbach“ des belgischen Choreografen Alain Platel als Gastspiel im Stuttgarter Schauspielhaus gibt es viele beklemmende Szenen, in denen sich die Frage nach der Würde des Menschen stellt.

Stuttgart – Gibt es ein sprechenderes Symbol für unser Leben im Überfluss als Kleider? Heute werden sie in Papiertüten vom Textil-Discounter nach Hause getragen, morgen schon sind sie aussortiert und enden in der Tonne – oder mit etwas Glück auf der Theaterbühne. Der belgische Choreograf Alain Platel machte gleich einen Berg alter Kleider zum Ort, an dem sein Tanzstück „Tauberbach“ spielt. Sie stehen für den Müll, in dem fünf Gestalten und mittendrin eine starke, an Schizophrenie leidende Frau ums Überleben wühlen.

Im Januar 2014 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, gelang der Produktion mit der Schauspielerin Elsie de Brauw in der Hauptrolle ein Durchmarsch, sie wurde zum Theatertreffen eingeladen und zum Lieblingsstück der Tanzkritiker. Jetzt hat „Tauberbach“ auf Einladung von Armin Petras an zwei Abenden die Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses mit Altkleidern geflutet. Und der Blick auf die wüste Stoffhalde, aus der sich Platels Tänzer in bizarren Metamorphosen herausschälen, in die sie sich von hebenden Lichttraversen herabfallen lassen, löst in den besten Momenten Beklemmung aus. Platel findet eingängige Bilder für die Katastrophe, die jenseits der Bühne spielt: für die Kluft, die sich zwischen denen öffnet, die zu viel haben, und denen, die abstürzen. Wie alle großen Künstler hat Elsie de Brauw keine Angst davor, hässlich zu wirken. In einem portugiesisch angehauchten Sprachenmix verortet sie „Tauberbach“ gleich zu Beginn im brasilianischen Kontext, der Platel inspirierte.

Grundmotiv seines im Grenzgebiet zwischen Sprache, Gesang und Bewegung agierenden Stücks ist eine Frau, die 20 Jahre lang krank auf einer der Müllkippen Rio de Janeiros überlebte. So weit muss der Blick ein Jahr nach der Premiere von „Tauberbach“ nicht mehr schweifen, um die Gegensätze von Arm und Reich zuzuspitzen. Das zeigt nicht nur der Fall der am Sonntag von Schleusern vor dem Schlossgartenhotel abgesetzten Flüchtlingsgruppe aus dem Irak.

Es gibt es großen Applaus für große Akteure

Trashiges Understatement bestimmt „Tauberbach“ auf allen Ebenen: Bach erklingt leise auf dem Harmonium gespielt oder anrührend-dissonant von einem Chor Tauber, gesungen aus dem Off. Die Bewegungen von Platels Tänzern prägen Zucken, Zittern, Zappeln. Von Krämpfen geplagt, bäumt sich das Leben noch einmal auf. Meist agieren die fünf als isolierte Wesen; wenn sie sich begegnen, dann oft in Gewalt, Erniedrigung, selten im Trost. In beklemmenden Szenen verknüpft Platel in einem Akt der Entblößung die Sehnsucht nach Nähe mit der Frage nach der Würde des Menschen. Da werden nackte Körper mit Farbe betatscht, zeichnen tanzende Finger ein Seismogramm der Demütigung auf ihnen, ziehen sich Zungen wie Magnete an.

Elsie de Brauw thront wie eine Müllkönigin dazwischen. Die innere Stimme, die sie schikaniert, können wir hören. Naives Erschrecken oder große Wut zaubert der Sturm aus dem Innern auf ihr Gesicht. „Hier hält’s nicht jeder aus, hier ist es vergiftet“, sagt sie und bringt auf den Nenner, wie der Überfluss seine Kinder frisst.

Die meisten Lacher erntet an diesem Abend aber der Tänzer Ross McCormack, der den überhitzten Kapitalismus wie eine Fliege fängt. Ihr Surren ist zu hören, und der Tänzer wandelt es, als er sie jagt, in den überdrehten Singsang eines amerikanischen Auktionators. Ein Lichtblick an einem düsteren Horizont.

Man könnte meinen, ein Stück wie „Tauberbach“ müsste mit seinen Zumutungen und Zerfaserungen spalten. In Stuttgart gibt es großen Applaus für große Akteure.