Wieder ein neuer Schützling: Britta Leins mit einer unterernährten Jungtaube Foto: Lichtgut//Leif Piechowski

Britta Leins kümmert sich um die verwahrlosten Tauben in der Stuttgarter Innenstadt – und hat deshalb ständig Ärger mit Passanten und Behörden.

Stuttgart - Es ist der 1. April 2020, das Land liegt seit zwei Wochen fast regungslos im Lockdown. Es gelten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Gastronomiebetriebe sind geschlossen, Millionen Angestellte arbeiten im Homeoffice. In den menschenleeren Fußgängerzonen finden die Tauben nichts mehr zu fressen, die Wohlstandsgesellschaft spuckt keine Speisereste mehr für sie aus. Es ist früh am Morgen, als Britta Leins auf der Stuttgarter Königstraße einige Handvoll Körner verstreut. Eine Polizeistreife kommt um die Ecke. So beginnt das Drama der tapferen Taubenretterin.

 

Gut anderthalb Jahre später sitzt Britta Leins, 35, in einem Café am Schlossplatz. In ihrer Tasche hat sie eine Jungtaube mitgebracht, die sie zufällig auf dem Weg von der Arbeit gefunden hat: „Das arme Butzele ist total unterernährt.“ Nach dem Interview wird sie den Vogel im Zug mit nach Horb nehmen, wo sie mit ihrem Mann in einem Eigenheim lebt. Sie wird die Taube aufpäppeln, wie sie schon Hunderte Tauben aufgepäppelt hat. Britta Leins hat sich diese Aufgabe, die längst ihr Leben bestimmt, nicht ausgesucht. Sie ist da reingeraten und kommt nicht mehr raus.

Schlüsselerlebnis in der Mittagspause

Vor sieben Jahren, nach dem Ingenieurstudium, beginnt sie an der Hochschule für Technik als Fachfrau für Arbeitsschutz. In der Mittagspause schlendert sie durch die Stadt und entdeckt eine Taube, die apathisch auf dem Trottoir kauert. Britta Leins wickelt den Vogel in ihren Schal, sagt ihrem Vorgesetzten, dass sie früher Feierabend machen müsse, und fährt zum Tierarzt. Dort wird die Taube von den Fäden befreit, die sich um ihre Beinchen gewickelt und ihr ins Fleisch geschnitten haben. „Das war eine typische Verletzung“, erzählt Britta Leins. „Ohne Hilfe faulen den Tieren bei lebendigem Leib die Gliedmaßen ab.“

Britta Leins weiß viel über das Elend der Stadttauben. Jede Studie, die zu diesem Thema veröffentlicht wird, liest sie. „Die Behörden ignorieren die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und halten stattdessen an alten Vorurteilen fest“, sagt sie.

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Die „Polizeiverordnung der Landeshauptstadt Stuttgart zur Abwehr der von Tauben- und Wasservögeln ausgehenden Gefahren“ stammt im Kern aus dem Jahr 1964. Darin heißt es unter anderem: „Größere Taubenansammlungen im Lebensbereich des Menschen stellen ein vielfältiges gesundheitliches Risiko dar. Als mögliche Erkrankungen kommen dabei in erster Linie Salmonellose, Geflügeltuberkulose, Pseudotuberkulose, aviäre Influenza sowie der Befall mit verschiedenen Endo- und Ektoparasiten sowie pathogene Mykosen in Betracht.“

Aufklärungsarbeit mit „Bild“ und RTL 2

Klingt lebensgefährlich, stimmt aber so nicht. Denn lediglich die grippeähnliche Ornithose kann von der Taube auf den Menschen überspringen – und das auch nur theoretisch: Eine derartige Infektion ist bundesweit nicht bekannt, die Überträger waren bisher ausschließlich Papageien. Laut einem Gerichtsurteil von 2018 darf die Firma Rentokil, Marktführer für Schädlingsbekämpfung, seine Taubenvergrämungsmittel deshalb nicht mehr mit dem Schutz vor Krankheiten bewerben.

Seit Jahren versucht Britta Leins, das Klischee von den „keimverseuchten Ratten der Lüfte“ zu widerlegen. Beharrlich leistet sie Aufklärungsarbeit. Sie läuft mit einem „Bild“-Reporter durch die Stadt und lässt sich für eine RTL-2-Doku filmen. „Der Mensch ist der Feind des Menschen und nicht die Taube“, spricht sie in die Kamera. Oder stellt eine rhetorische Frage: „Sind Tauben für Corona und den Klimawandel verantwortlich?“ Britta Leins hat auch mal mit anderen Taubenschützerinnen den Stuttgarter Gemeinderat zu einer Infoveranstaltung eingeladen. Gekommen sind aber nur drei Vertreter der AfD.

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Rund ein Drittel ihres Nettoverdienstes gibt Britta Leins für Futter und Tierarztbehandlungen. Auf einem Grundstück am Böblinger Tierheim hat sie mit Bekannten eine Voliere für behinderte Tauben errichtet, die in Freiheit nicht überleben könnten. Dort kriegt Wiedehopf seine Gnadenkörner: Der rechte Fuß des Tauberichs ist verkrüppelt, vermutlich von Geburt an. Wilma wurde auf einem Bahngleis im Stuttgarter Hauptbahnhof der Flügel abgerissen. Bea fehlt ein Bein – vermutlich hat sie ein Raubvogel attackiert. Rund 60 solcher Tierschicksale sind in der Voliere auf 35 Quadratmetern vereint.

Es geht ihr ums Prinzip

Werktags ist Britta Leins in der Stuttgarter Innenstadt im Einsatz. Wenn sie morgens, bevor für sie der Arbeitstag an der Hochschule beginnt, die Tauben füttert, wird sie von wildfremden Passanten beschimpft: „So eine Sauerei! Ich zeig Sie an!“ Und wenn sie sich eine Brezel zum Frühstück kauft, blickt sie an der Bäckerei auf ein Plakat: „Tauben füttern verboten! Bußgeld bis zu 5000 Euro.“

Zum Glück ist das nur eine leere Drohung. Tatsächlich soll Britta Leins 35 Euro an die Stadtkasse zahlen, nachdem sie am 1. April von einer Polizeistreife angezeigt wurde. Dennoch legt sie gegen den Bußgeldbescheid Widerspruch ein. „Niemand kann verlangen, dass ich tatenlos zusehe, wie Tiere leiden“, sagt sie. Der Fall landet vor dem Amtsgericht – und Britta Leins verliert. Noch heute regt sie sich ungeheuer darüber auf, dass die Richterin ihr lapidar erklärte, sie müsse halt einen Weg finden, die Tauben aus der Stadt zu locken.

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Tauben sind standorttreu, sie bewegen sich in einem Radius von ungefähr 500 Metern. Auf diesem begrenzten Raum fressen die Tiere, was sie finden: Brotstücke, Dönerhappen, Kartoffelchipskrümel. Artgerecht ist diese Nahrung nicht, die Tauben bekommen Durchfall, der schmierige Kot bleibt auf Bürgersteigen und an Hausfassaden kleben. Dennoch ist es in Stuttgart illegal, ihnen auf offener Straße bekömmliches Körnerfutter anzubieten: Auf den Ämtern herrscht die Überzeugung vor, dass satte Vögel mehr Nachwuchs produzieren als hungrige. „Das ist ein moderner Aberglaube“, sagt Britta Leins. „Fakt ist, dass eine Taube – egal, was und wie viel sie frisst – pro Jahr sechs Bruten durchbringen kann.“

Wie kann man den Tauben-Bestand reduzieren?

Schuld an dieser extremen Reproduktionsfähigkeit ist der Mensch. Er hat Tauben einst gezielt angezüchtet, sich ganzjährig zu vermehren, weil er möglichst viel Fleisch und Eier von ihnen haben wollte. Und dann sollten sie auch noch so ortsverbunden sein, dass sie als Brieftauben aus tausend Kilometer Entfernung in den heimischen Schlag zurückfinden. Die heutigen Stadttauben sind die verwahrlosten Nachkommen dieser domestizierten Hochleistungsvögel.

In Stuttgart gibt es etwa 12 000 Tauben, „zu viele“, wie Britta Leins einräumt. Jahrzehntelang hat man versucht, die Vögel gewaltsam zu dezimieren: Man rückte ihnen mit Netzen, Stacheln oder Gift zu Leibe. Erfolglos. „Die einzige Methode, weniger Stadttauben auf die Straßen zu bringen, ist die Bestandsregulierung über Nistplätze in betreuten Taubenschlägen, wo die frisch gelegten Eier gegen Gipsattrappen ausgetauscht werden“, sagt Britta Leins. Elf solcher Schläge, von der Stadt finanziert, gibt es in Stuttgart inzwischen. „Das ist ein riesiger Fortschritt. Aber es wären etwa doppelt so viele Schläge nötig, um das Problem wirklich in den Griff zu bekommen.“ Bis sie und ihre Mitstreiterinnen dieses Ziel erreicht haben, verteilt Britta Leins an den Tauben-Hotspots in der Innenstadt Futter – und wird für dieses Engagement bestraft.

Vergangenen Montag, Amtsgericht Stuttgart, Saal 303. Zum zweiten Mal hat Britta Leins gegen einen Bußgeldbescheid wegen „verbotswidrigen Fütterns wild lebender Tauben“ Widerspruch eingelegt. Es geht ihr nicht um die 35 Euro – „das Geld ist mir egal“ – sondern darum, „dass sich endlich etwas ändert“. Diesmal wurde sie am Hauptbahnhof von einem Polizeihauptmeister in flagranti erwischt. Als Beweisstück stellte der Beamte eine Plastiktasche sicher, die, wie er als Zeuge aussagt, „zur Hälfte mit Körnern gefüllt war“.

Der Tierrechtler plädiert auf Freispruch

Julia Bischoff, hauptamtliche Leiterin des Stuttgarter Stadttaubenprojekts, wird als Sachverständige gehört. Sie erklärt, dass eine gesunde Taube mindestens 230 Gramm wiegt, die Tauben in der Innenstadt aber maximal 150 Gramm auf die Waage brächten: „Diese Tiere bestehen nur aus Haut, Knochen und Federn.“ Problematisch sei, dass es ausgerechnet dort, wo die Not am größten ist, noch keinen betreuten Taubenschlag gebe: „Wir suchen am Hauptbahnhof, am Schlossplatz und am Rotebühlplatz nach Standorten.“ Die weitverbreitete Angst, dass die Tiere für den Menschen gefährlich sind, sei unbegründet: „Wir haben Mitarbeiter, die seit acht Jahren die Schläge reinigen. Täglich kommen sie mit den Tauben und ihrem Kot in Kontakt, und niemand ist aufgrund dieser Arbeit erkrankt.“

Das deckt sich mit den Einlassungen von Britta Leins. Ihr Anwalt, der 80-jährige Tierrechtler Eisenhart von Loeper, weist darauf hin, dass laut Grundgesetz auch eine Taube als „fühlendes Mitgeschöpf“ zu gelten habe: „Hätte meine Mandantin hungernde Hundewelpen gefüttert, würde ihr Handeln vermutlich ganz anders beurteilt werden.“ Nach Paragraf 34 des Strafgesetzbuches sei die Verletzung der Rechtsordnung – in diesem Fall der Stuttgarter Polizeiverordnung – legitim, um ein „höherwertiges Interesse“ zu schützen – in diesem Fall das Leid der Stadttauben zu mildern. Von Loeper plädiert auf Freispruch.

Wieder mal ein Frusterlebnis

Eine Stunde lang hört sich die Richterin die wissenschaftlichen und juristischen Vorträge geduldig an. Dann kommt sie zu dem Schluss, dass ein Amtsgericht nicht dafür zuständig sein kann, den Job von Stadtverwaltung und Kommunalpolitik zu erledigen: „Ich bin nicht der Normgeber, ich wende die Norm an.“ Es bleibt bei dem Bußgeld für Britta Leins, zudem muss sie die Kosten des Verfahrens tragen.

Die frisch verurteilte Wiederholungstäterin verlässt frustriert den Saal. Wird sie nun aufhören, Stadttauben zu füttern? „Natürlich nicht“, sagt Britta Leins. „Ich fühle mich den Tieren verpflichtet. Und meinem Gewissen.“