Vogel mit Imageproblem Foto: Andreas Rosar Fotoagentur-Stuttg

Die Taube ist der menschlichen Willkür preisgegeben, meint Lokalchef Jan Sellner. Bei keinem anderen Tier reagieren wir so widersprüchlich.

Stuttgart - Der Mensch – also auch der Homo stuttgartiensis – hat ein gespaltenes Verhältnis zu Tauben. Er unterscheidet gute Tauben und schlechte Tauben. Zu den guten Tauben zählt er die Friedenstaube, der Picasso eine vollendete Gestalt gegeben hat. Picasso malte Tauben für die Weltfriedenskongresse in Paris, Berlin, Stockholm, Wien, Rom und Moskau. Die berühmteste wurde „Die fliegende Taube“ von 1950. Ein Jahr später tauchte sie in Picassos Illustrationen des Gedichts „Le Visage de la Paix“ von Paul Éluard mit Olivenzweig auf. Das Friedenssymbol schlechthin.

Kaum weniger bekannt ist die von dem finnischen Grafiker Mika Launis in den siebziger Jahren entworfene weiße Taube auf blauem Grund, die später die Friedensbewegung beflügelt hat. Zu den guten Tauben zählt auch die biblische Taube aus dem ersten Buch Mose. Von Noah ausgesandt, kehrte sie schließlich mit einem Ölzweig im Schnabel zur Arche zurück – dem Beweis für das Ende der Sintflut. Die Taube als Hoffnungszeichen.

Auf einer Stufe mit Ratten und Mäusen

Die deutsche Sprache kennt fast nur gute Tauben: angefangen bei den Turteltauben und der Taube auf dem Dach. Die Taube taucht in Kosenamen auf – und auf Hochzeiten. „Lassen Sie das Symbol für Liebe, Treue und Glück fliegen“, werben kommerzielle Anbieter. Begleitet werden solche „Taubenauflässe“ von einem großen Aha.

Wenn Tauben allerdings nicht von Picasso stammen, wenn sie nicht weiß sind, wenn es sich weder um Brieftauben noch um Zuchttauben handelt, wenn sie nicht feierlich aufsteigen, sind sie plötzlich nichts mehr wert. Die gemeine Stadttaube steht in der öffentlichen Wahrnehmung auf einer Stufe mit Ratten und Mäusen. Sie gilt als Plage. Georg Kreißler ging „Tauben vergiften im Park“. Unter Applaus.

Tatsächlich haben viele Städte – auch Stuttgart – ein massives Taubenproblem. Händler, Gastronomen, Hausbesitzer, Fußgänger führen Klage – eigentlich alle. Das ist durchaus verständlich: Wo Tauben massenhaft auftreten, gibt es ein Hygiene- und ganz allgemein ein Wohlfühlproblem.

Vorbildliches Taubenprojekt

Mit unterschiedlichsten Maßnahmen, darunter auch sehr fragwürdigen, versucht man, den Bestand der schlechten Tauben zu dezimieren. Dass die Tauben aber nicht wie eine biblische Plage über die Städte gekommen sind, sondern von Menschen domestiziert wurden, bleibt ausgeblendet. Die Mitarbeiter des Taubenprojekts Stuttgart, die hier Vorbildliches leisten, indem sie Eier gegen Attrappen austauschen und so den Nachwuchs regulieren, nennen die Stadttauben treffend „die verwilderten Kinder und Kindeskinder von Felsen-, Zucht- und Sporttauben“.

Gute Tauben, schlechte Tauben. Wohl bei keinem anderen Tier fällt unser Urteil so krass und willkürlich aus – abhängig davon, in welchem Zusammenhang und in welcher Farbe es uns begegnet. Es wäre interessant zu wissen, welche Wirkung von Picassos Tauben ausginge, hätte er sie nicht schneeweiß gemalt, sondern womöglich taubengrau. Damit wird das Tauben-Problem in den Städten auf keinen Fall kleingeredet. Mit keinem Wort. Es soll nur darauf hingewiesen werden – das aber deutlich! –, mit welchen Widersprüchen wir leben. Als sei das selbstverständlich.

jan.sellner@stzn.de