Der plötzliche Tod Pina Bauschs hinterließ 2009 eine Lücke, die bis heute klafft. Foto: dpa

Neue Intendantin, neues Haus, neuer Spielplan: Das Tanztheater Wuppertal sucht nach einem Weg in die Zukunft.

Stuttgart - Der Todestag von Pina Bausch jährt sich im nächsten Sommer zum zehnten Mal. Im Juni 2009 war die Erfinderin des Wuppertaler Tanztheaters plötzlich gestorben, fünf Tage nur nach der Diagnose Lungenkrebs. In Stuttgart fühlte man sich damals an die Lücke erinnert, die der Tod John Crankos hinterlassen hatte; der Gründer des Stuttgarter Balletts war 1973 beim Rückflug von einem Amerika-Gastspiel erstickt.

Der Zustand, in dem die Ensembles zurückblieben, ähnelte sich: Auf den Schock folgte ein schwieriger Neustart. In Stuttgart gab der amerikanische Choreograf Glen Tetley als Ballettdirektor nach wenigen Monaten sein Amt wieder auf. Erst seiner Nachfolgerin Marcia Haydée gelang es von 1976 an, einerseits das Erbe John Crankos zu bewahren, andererseits das Repertoire in seinem Sinn weiterzuentwickeln.

Genau das erwartete man in Wuppertal von der im Mai 2017 verpflichteten Künstlerischen Leiterin Adolphe Binder. Doch statt vor einer vielversprechenden Zukunft steht Pina Bauschs Ensemble nach der fristlosen Kündigung seiner neuen Intendantin im Juli vor einer Lücke, die noch größer zu klaffen scheint als vor zehn Jahren. Die Verlagerung von internen Auseinandersetzungen vors Arbeitsgericht wirft kein gutes Licht auf den Umgang in der Führungsriege des Wuppertaler Tanztheaters, wo administrative Interessen im Streit mit künstlerischen Unstimmigkeiten statt Aufbruchstimmung beförderten.

Vom gemeinschaftlichen Geist, den Wim Wenders Kino-Dokumentation „Pina“ 2011 in drei Dimensionen feierte, dringt nicht mehr viel nach außen. „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“ lautet der Untertitel des Oscar-nominierten Films. Und obwohl seit Pina Bauschs Tod in Wuppertal und bei Gastspielen in der ganzen Welt wie demnächst in Athen immer weiter getanzt wird, steht der zweite Teil von Bauschs Aufforderung aktuell wie eine Drohung im Raum.

Ende der Woche folgt der Rest des Spielplans

„Wir sind mit dem Tanztheater in einer durchaus schwierigen Situation“, sucht denn auch Johannes Slawig, der Wuppertaler Stadtdirektor, erst gar nicht nach Ausflüchten. Immerhin scheint ein Problem vorerst gelöst: Nach viermonatiger Vakanz ist die Künstlerische Leitung des Tanztheaters wieder besetzt: Bettina Wagner-Bergelt hat die Aufgabe seit Mitte November für zunächst zwei Jahre übernommen; Ende dieser Woche stellt sie den noch fehlenden Spielplan, den Adolphe Binder nur bis Februar konzipieren konnte, für den Rest der laufenden Spielzeit vor.

Bettina Wagner-Bergelt, die 1987 die Münchner Tanzbiennale Dance gründete, war als stellvertretende Direktorin bis 2017 für die moderne Seite des Bayerischen Staatsballetts verantwortlich, mit dem sie als Erste eine Produktion von Pina Bausch übernehmen durfte. Seit Oktober 2017 plant sie als Künstlerische Leiterin das Eröffnungsfestival zum 100. Geburtstag des Bauhauses. Ihr traut man wie Binder den Neustart zu; doch warum sollte die sechzigjährige Tanzmanagerin in Wuppertal eine bessere Ausgangsposition haben als ihre Vorgängerin?

Langes Warten auf neue Impulse

„Natürlich muss das Ensemble neue Impulse bekommen“, sagt Wagner-Bergelt über die Zukunft des Wuppertaler Tanztheaters. Bereits Adolphe Binder hatte in der kurzen Zeit ihrer Künstlerischen Leitung erstmals zwei abendfüllende Arbeiten anderer Choreografen für Wuppertal ankurbeln können, vor allem der Norweger Alan Lucien Øyen und sein neues Stück überzeugten.

Auf solche Impulse musste das Wuppertaler Tanztheater viel zu lange warten. Bis zu Adolphe Binders Antritt im Mai 2017 hatte das Urgestein Dominique Mercy das Bestehende verwaltet; Lutz Förster, ebenfalls ein ehemaliger Tänzer Bauschs, wagte sich als Nachfolger Mercys in der Saison 2015/16 mit drei kürzeren Uraufführungen von Gastchoreografen erstmals auf Neuland vor.

Von Adolphe Binder erhoffte man sich dann endlich nachhaltigen kreativen In- und Output. Man holte die Direktorin der Göteborger Dankskompani, weil man der „exzellent vernetzten“ Tanzfrau zutraute, wie die damalige nordrhein-westfälische Kultusministerin Christina Kampmann äußerte, das Ensemble „auf hohem Niveau weiterzuentwickeln und in die Zukunft zu führen“ – Verjüngung der Kompanie, deren Tänzer drei Generationen umfassen, inklusive. Doch statt die Impulsgeberin bei der Umsetzung ihrer Ideen zu unterstützen, kam es zwischen ihr und Dirk Hesse, dem Tanztheater-Geschäftsführer, zu Unstimmigkeiten, die niemand bereinigen konnte – und wollte. Der Tanztheater-Beirat sah keine andere Möglichkeit, als Binder fristlos zu kündigen; die ahnungslosen Tänzer erfuhren davon bei einem Gastspiel in Paris.

60 Millionen kostet das Pina-Bausch-Zentrum

Doch nun stehen die Zeichen in jeder Hinsicht auf Neuanfang. Geschäftsführer Dirk Hesse geht auf eigenen Wunsch, ihm folgt vom 1. Januar an Roger Christmann. Und überhaupt geht es derzeit Schlag auf Schlag in Sachen Zukunft. Am kommenden Montag wird im Stadtrat im Grundsatz über das 60 Millionen Euro teure Projekt eines Pina-Bausch-Zentrums entschieden. Dort soll die Kompanie dauerhaft unterkommen, proben und auftreten. Der Bund übernimmt die Hälfte der Umbaukosten; das Land Nordrhein-Westfalen beteiligt sich ebenfalls. Das künftige Zentrum soll im heute leer stehenden, denkmalgeschützten Schauspielhaus aus den 1960er Jahren entstehen. Auch eine von Salomon Bausch nach dem Tod seiner Mutter gegründete Stiftung soll dort unterkommen. In der chronisch klammen Industriestadt ist das Vorhaben eine Herzensangelegenheit. „Das Tanztheater ist Teil der Wuppertaler Kultur, ist Teil des Selbstbewusstseins“, so Slawig.

An diesem Donnerstag geht es aber erst noch einmal um Vergangenheitsbewältigung – vor dem Arbeitsgericht, das im nächsten Schritt über die Kündigungsschutzklage von Adolphe Binder befinden muss. Dem internationalen Glanz der Kompanie scheint die Auseinandersetzung vorerst noch nicht zu schaden. Gerade erst kam sie von vier Auftritten vor vollen Rängen aus dem brasilianischen São Paulo zurück. Kurz vor Weihnachten geht es nach Athen. Auch dort waren die Karten im Nu ausverkauft.