Tanz verbindet – unabhängig von Herkunftsländern und Religionen. Das macht sich Heidi Rehse zunutze. Foto:  

„10 Years of Furious Dancing“ – Die Choreographin Heidi Rehse lässt bei „Dancers across Borders und Salamaleque Dance Company“ Menschen verschiedenster Herkünfte zusammen tanzen.

„Das hatte ich so noch nicht erlebt – frei zu tanzen half ungemein!“ Iuliia Myroniks Augen leuchten, als sie von ihren ersten Wochen bei den „Dancers across Borders“ erzählt. Das war im Mai 2022. Da hatte sie ihr Heimatland Ukraine verlassen nach dem brutalen Überfall Russlands. Gerade 40 Jahre geworden, musste sie ihr ursprüngliches Leben neu ordnen. Um Deutsch zu lernen, ging die Lehrerin für Ukrainisch und Englisch zur Volkshochschule Stuttgart.

 

Dort, im Treffpunkt Rotebühlplatz, traf sie auf Heidi Rehse – jene Tänzerin, Choreographin und Traumatherapeutin, die mit der VHS das Tanztheaterprojekt „Dancers across Borders“ in Kooperation mit Salamaleque e. V. ins Leben gerufen hatte. Ziel: Geflüchteten neue Perspektiven aufzeigen und ihnen durch die universelle Sprache des Tanzes einen Zugang zur Gesellschaft ermöglichen.

120 Menschen aus 24 Ländern sind dem Aufruf zum Tanzen gefolgt

So hatte im Oktober 2015 Rehse erstmals mit dem Tänzer Larry Bamidele Teilnehmende von Deutsch- und Integrationskursen eingeladen, ihre persönlichen Geschichten tänzerisch zu verarbeiten. Dieser Einladung sind bisher über 120 Menschen aus 24 Ländern gefolgt – von Afghanistan, Brasilien, Burkina Faso und Deutschland über Ghana, Indien, Iran und Japan bis Mexiko, Polen, Rumänien und der Türkei. „Manche sind bis heute bei den ‚Dancers across Borders’, manche sind gegangen, manche sind wieder oder neu gekommen“, schildert Rehse.

So sei die Gruppe nach und nach mit ihrer Tanzkompagnie „Salamaleque Dance Company“ verschmolzen. Den Verein Salamaleque hatte Rehse in Brasilien gegründet. Dort machte sie ihre Tanzausbildung, unterrichtete in den Favelas, um mit Kunst- und Tanzprojekten Straßenkinder und Jugendliche zu stärken in Ländern, die von Gewalt, Konflikten, Kriegen und Armut gezeichnet sind, etwa Sierra Leone, wo sie auch mit Kindersoldaten arbeitete. Den portugiesischen Namen Salamaleque – quirlig, lebendig – gaben einst die Kinder dem Projekt.

Heidi Rehse (links) und Iuliia Myroniks Foto: Petra Mostbacher-Dix

Auch die „Dancers across Borders“ bringen sich ein. Iuliia beschreibt: „Als Heidi sagte, lass deine Wut raus, wusste ich nicht wie. Dann merkte ich, wie es in mir simmert und frisst. Das hochzuholen und auszudrücken, war unheimlich wichtig.“ Ebenso improvisieren zu lernen und den Perfektionismus Perfektionismus sein zu lassen.

„In der Ukraine muss eine Ballerina perfekt sein, da gibt es nicht so eine freie Szene mit unterschiedlichen Tanzmöglichkeiten.“ Bei Heidi habe sie loslassen, das Make-up weglassen gelernt – und sie selbst zu sein. „Gefühl und Mensch zählt, abkapseln bringt nichts. Tanzen ist Freude, Begegnung, Therapie, hilft sich zu integrieren, gibt neue Perspektiven. Wir sind wie eine Familie, lachen, weinen, knatschen – halten zusammen.“

In „Dancing Across Time“ geht es beim Tanzen um Flucht und Gewalt

Rehse nickt. Alle könnten bei den Auftritten mitmachen, niemand müsse, sagt sie. Und: Alle nähmen voneinander etwas mit. „Jede Kultur hat etwas zu geben.“ Sie hätte etwa von den Ukrainerinnen mehr Struktur gelernt, lacht sie. „Wir reiben uns auch, aber wir sprechen und finden Lösungen.“ Etwa als Mitglieder Abschiebungen drohten: Ein Ex-Tänzer konnte zurückkommen, ist nun erfolgreiche Pflegekraft. Ein anderer spürte wiederum, dass seine Angst, auf der Bühne „schwul zu wirken“, vollkommen „doof“ war. „Tanz verbindet – unabhängig von Herkunftsländern und Religionen – über Sprachbarrieren hinweg“, so Rehse, die für ihr Engagement 2018 zur Stuttgarterin des Jahres gekürt wurde.

Zum Zehnjährigen wird am heutigen Donnerstag ab 19 Uhr im Treffpunkt Rotebühlplatz gefeiert, Motto „10 Years of Furious Dancing: Dancers across Borders und Salamaleque Dance Company“, mit Performance, Tanzfilm von Afroditi Festa und Fotoausstellung von Andrea Teicke. Apropos, Einblick in die Dekade gibt auch das Stück „Dancing Across Time“, das kürzlich bei der Premiere viele zu Tränen rührte. Darin vereint die Künstlerin mit ihrer Truppe einstige Choreographien. „Weil es mit den Tanzenden zu tun hat, geht es oft um Flucht und Gewalt“, so Rehse. „Aber auch um Hoffnung und Gemeinschaft.“