Am 52. Todestag von John Cranko startet Eric Gauthier das Colours-Festival mit hartem Tobak: Es geht um Tanz mit Toten. Im Theaterhaus ringen begeisterte Gäste um Worte.
Draußen am Eingang des Theaterhauses flattern bunte Fahnen. Der fröhliche Anblick lässt die gelebte Vielfalt in Stuttgart auf angenehme Weise spüren. Beim fünften Tanzfestival Colours zeigt die Stadt erneut ihre Weltoffenheit, verbindet Kulturen, Identitäten und Lebenslust mit hochwertigen und emotionalen Programmen – auch dort, wo Tanz sonst nicht hinkommt, also quer durch die Stadtteile.
In seiner Begrüßung spricht Theaterhauschef Werner Schretzmeier, 81, von der „Schönheit des Miteinanders“, davon, dass sich dieses große Freudens- und Friedensfest des Tanzes „gegen jede Form von Gewalt“ wendet. Anderthalb Stunden später, nach Standing Ovations, nach intensiven Szenen, die unter die Haut gehen, sieht man, wie etliche Tanzfans mitgenommen aus dem großen Saal T 1 kommen. „Das war harte Kost“, hört man immer wieder.
Ein spirituelles Ritual aus Madagskar beeindruckt
Gleich zum offiziellen Start des fünften Colours-Festivals lockt ein großer Name ins Theaterhaus: Der britische Star-Choreograf Akram Khan mit Wurzeln in Bangladesh bringt mit „Turning of Bones“ ein spirituelles Ritual aus Madagaskar auf die Bühne, eine oft düstere Inszenierung mit eindringlicher Musik, die heftig reinhaut. Beim Talk mit Compagnie-Chef Eric Gauthier zu Beginn sagt Kunst- und Wissenschaftsministerin Petra Olschowski im voll besetzten Theatersaal noch, Tanz könne ablenken von Kriegen, Krisen, harten Zeiten. Nach dem Schlussapplaus muss sie tief schlucken und will erst mal gar nichts sagen: „Ich muss das erst mal sacken lassen.“
Dass es so heftig kommt, hat die grüne Ministerin wohl nicht gedacht. Von Freude, die OB Frank Nopper (CDU) mit Gauthier-Dance verknüpft, ist in den Gesichtern der Premierengäste, darunter sind Promis aus Tanz, Politik, Wirtschaft, der Kulturszene, Intendanten, Ballettdirektoren sowie die Ballettlegenden und Cranko-Vertrauten Egon Madsen (82), Georgette Tsinguirides (97) und George Bailey (81) nach Ende einer besonderen Premiere nur wenig zu sehen. Man ringt um Worte. „Es war sehr gut“, sagt Kinostar Lars Eidinger. Tief berührt scheint der Berliner zu sein von dem, was er körperlich empfunden hat – auch er will deshalb nur wenig sagen.
Verstorbene werden aus Gräbern geholt
Bei der After-Show-Party, die sich angesichts der Temperaturen vor allem draußen abspielt, rühmen etliche Gäste die tänzerische Weltklasse, die Gauthier Dance an diesem Abend bewiesen habe. „Es war grandios“, jubelt Jason Reilly, der Star des Stuttgarter Balletts, „so hat man Erics Ensemble noch nie gesehen.“ Wer Gauthier Dance kennt, denke nun: Wurden alle Tänzerinnen und Tänzer über Nacht ausgetauscht? Die sind ja völlig anders, als man sie kennt, wachsen noch weiter über sich hinaus!
Model und Moderator Mustafa Göktas sagt, die Vorstellung sei mitunter „anstrengend, fast schmerzhaft“ gewesen, sie berühre emotional tief. Sängerin Babs Steinbock von den DoopWop Mädla ist im Glück, weil sie „ganz große Kunst“ gesehen habe, die aber auch „bedrückend und martialisch“ gewesen sei. Nach so viel Düsternis auf der Bühne brauche sie „jetzt wieder meine Schmetterlinge und Blümchen“.
Bei „Turning of Bones“, also beim Umdrehen von Knochen, geht es um ein rituelles Fest, bei dem Verstorbene aus ihren Gräbern geholt, neu eingewickelt und mit der Familie gefeiert werden – oft mit Musik, Tanz, Speisen und herzlichen Gesten. Dieses Ritual symbolisiert eine Verbindung zwischen den Lebenden und ihren Ahnen, getragen von Respekt, aber auch von Freude. Die Toten werden nicht betrauert, sondern in einem fröhlichen Fest „erneuert“. Die Angehörigen tanzen mit den Gebeinen ihrer Lieben, um Dankbarkeit und Zugehörigkeit auszudrücken – und auf diese Weise in Verbindung mit den Göttern zu treten, von denen sie sich dadurch Gutes versprechen.
Das Stück ist auch eine Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit
Der Auftakt des Festivals – genau an dem Tag, an dem 1973 John Cranko gestorben ist – ist mehr als ein künstlerisches Top-Ereignis. Die Vorstellung wird zur Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit – in Zeiten, da bei Kriegen weltweit Tausende sterben, ist dies kein leichter Gang.
Das Tanzfestival Colours, das bis zum 13. Juli an verschiedenen Orten stattfindet, ist bereits zu 90 Prozent ausverkauft, sagt Meinrad Huber, der zweite Festivalleiter. Die erfolgreichsten Dance Companies dieser Zeit geben sich die Ehre in Stuttgart. Bei etlichen Open-Air-Events kann jede und jeder aber auch selbst tanzen. Der Dank der Festivalmacher gilt an diesem Abend allen finanziellen Förderern, den privaten Sponsoren ebenso wie Stadt und Land, ohne die Colours nicht möglich wäre.
„Eric Gauthier macht die Bühne auf für alle“, lobt Ministerin Petra Olschowski. Der Compagniechef, den die Stadt als Sunnyboy kennt, macht aber auch die Bühne auf für extreme, bedrückende Gefühle, die ein Echo auslösen, das innerlich aufwühlt und beklemmend nachhallt.