Blick in fremdartige Tanzwelten: Szene aus Sharon Eyals Erfolgsstück „House“ Foto: Christoper Duggan

Auch im Tanz ist die Burn-out-Gesellschaft angekommen; die israelische Choreografin Sharon Eyal nimmt sie in ihrem Stück „House“ unter die Lupe. Am 7. und 8. Juli ist Eyals Kompanie L-E-V mit einer Uraufführung zu Gast bei Eric Gauthiers Festival „Colours“ im Theaterhaus.

Immer besser, immer schneller, immer mehr? Wer miterlebt, wie der Tanz wachsende Anforderungen an seine Interpreten stellt, der weiß: Er kann gut als Symbol unserer Wettbewerbsgesellschaft stehen; der Anspruch an Disziplin und Leistungsbereitschaft ist enorm, ebenso groß sind die Erwartungen, die im Sportzeitalter an technische Präzision und Virtuosität herangetragen werden, kreatives Mitdenken immer vorausgesetzt. Ja, Tänzer taugen als Helden einer Erfolgskultur, die Wachstum liebt und die Menschen vor allem ökonomisch als Wert setzt.

Antihelden mit Herz

Aber Tänzer können auch Antihelden sein. Die perfekten Ausgebrannten, die zu sehr für etwas entflammt waren. Bei der Tanzbiennale der Stadt München konnte man zu Beginn der Woche beide besichtigen, Helden und Antihelden. Während draußen vorm Gasteig der von Stefan Dreher angezettelte Marathon „Dancing Days“ mit überaus fröhlichen Tanzarbeitern vor mitzählender Digitaluhr in seine 33. Stunde hüpfte, verweigerten sich drinnen die fremdartigen Wesen der israelischen Tanzgruppe L-E-V treibenden Techno-Beats.

Lev ist das hebräische Wort für Herz. Und das Herz der Tanzkompanie, welche die Choreografin Sharon Eyal und ihr Partner, der Tanz- und Musikproduzent Gai Behar, 2013 in Tel Aviv gründeten, schlägt beim Gastspiel in München laut. Das Mobiliar im Carl-Orff-Saal des Gasteigs vibriert, die jungen Menschen im Publikum zucken im Rhythmus der Beats, die gnadenlos wummern. DJ Ori Lichtik hat sich an die Kindertage des Techno erinnert, als er „House“ ausmalte, Eyals Erfolgsstück. Es ist der Soundtrack einer Generation, die mit der Loveparade groß wurde und mit einem bunten Mix an Pillen, die alles, auch Bewegungsdrang und Ausdauer, steigern.

Eine düstere Bühne erinnert an die Untergrundpartys, als sich die ersten Raver in Müllsack-Outfit ans Werk machten. Doch „House“ katapultiert sich nur akustisch in eine Zeit, als selbst Spaß haben nach Arbeit aussah und auch so klang. Rund 20 Jahre später lässt Sharon Eyal den Tanz an einem Punkt innehalten, an dem man nicht mehr unbedarft an der Leistungsschraube dreht. Ihre sechs Tänzer wirken wie Insekten in Kältestarre, in die das Licht der Scheinwerfer minimales Leben bringt.

Die Bewegungen sind präzise und auch in der klaren Linienführung vom Ballett inspiriert. Doch wo Balletttänzer mit ausgedrehten Hüften maximale Flexibilität und Power signalisieren, kauern die in geschlechtsneutrale Anzüge verpackten Wesen, die „House“ bevölkern, erst tief im Plié, später tippeln sie x-beinig sanft auf der Stelle. Große Sprünge sind so nicht möglich; jede Arabeske wird zum Kraftakt, jede Begegnung zum riskanten Moment. Roboterhaft wirkt der Tanz häufig und bedient sich für impulsive Momente und dem illusionistischen Auf-der-Stelle-Laufen bei Breakdance und Electric Boogie. Immer wieder gefriert Sharon Eyal, die das Stück selbst eröffnet, den Tanz in Standbildern, nie wirkt er von Beats gehetzt.

Tanzen im Akkord

Runter mit der Taktzahl? Vielleicht ist das ja insgeheim auch die Botschaft, die sich hinter Stefan Drehers Tanzinstallation „Dancing Days“ verbirgt. Wer nur oberflächlich hinschaut, sieht ein Dutzend entfesselter Bewegungskünstler, die im Gasteig-Innenhof täglich zum Tanzmarathon antreten. 66 Stunden wollen die Akkordtänzer am Ende von elf Festivaltagen in den Knochen haben. Ist es „ein Manifest der Entschlossenheit, das zum Schluss alle Teilnehmer in gemeinsamer Euphorie vereinigt“, wie eine tschechische Kritikerin das Projekt feiert? Oder muss man sich sorgen, wenn Guinness-Rekord-Mentalität seriöse Festivals befällt und der Tanz unfreiwillig zur Karikatur der Leistungsgesellschaft wird? In München zaubert der Marathon seinen Teilnehmern solche Freude ins Gesicht, dass sich jede Kritik verflüchtigt und ein Trost bleibt: Bewegung an der frischen Luft ist gesund.

Selbst das NDT marschiert

Draußen waren auch die Junioren des Nederlands Dans Theaters (NDT) unterwegs. Mitgebracht haben sie einen Film, der gute Laune in Alexander Ekmans furiosen Tanz-Wettlauf „Left Right Left Right“ bringt. Das Bewegungsmaterial haben sie, bevor es vom Studio auf die Bühne des Ludwigsburger Forums kam, in den Straßen Den Haags erprobt. Links, rechts, links, rechts!, treibt der Choreograf nun aus dem Off seine 13 jungen Marschierer an, bevor er sie auf Laufbänder stellt und dem Tanz neue Beschleunigung und ungesehene Möglichkeiten eröffnet. Stillstand ist tatsächlich Rückschritt – doch wer sich umdreht, kommt von allein voran. So werden Helden der Höchstleistung im Nu zu Antihelden und umgekehrt.

Mit frischem Wind (aus Föhn und Laubbläser) holt Johan Inger in „B.R.I.S.A.“ acht Tänzer aus ihrer Isolation. Suchten sie zuvor gesenkten Hauptes im Flokati nach der berühmten Nadel, tanzen sie jetzt mit wehenden Haaren, als hätte der Wind der Veränderung ihre Akkus nachhaltig aufgeladen. Raus aus isolierendem Konkurrenzdenken? Das ist eine Möglichkeit, die auch in einer neuen Arbeit von Sharon Eyal anklingt. „Sara“ heißt sie und ist 2013, also zwei Jahre nach „House“, für die Junioren des NDT entstanden. Zu einer geheimnisvollen Gemeinschaft ordnet die Choreografin sieben Tänzer, die traumverloren agieren, wieder speisen nur minimale Bewegungen ihr Tun. Ori Lichtik hat „Sara“ mit sphärischen Klängen untermalt, die, statt einpeitschen zu wollen, den Dialog mit den Tänzern suchen.