Papst Benedict XV. hatte den sündhaften Tango einst verboten. Nun ist der argentinische Tanz nicht nur salonfähig, er erobert sogar Kirchenräume. Pfarrer Til Bauer, selbst passionierter Tänzer, wagt ein Experiment. Bauer verbindet Elemente des Gottesdienstes mit Tango.

Stuttgart - Ein tiefer Seufzer stürzt jeden in Andacht. Es ist der Klagelaut des Bandoneons. Seit eh und je verbinden Menschen mit diesem Klang eine Sehnsucht. Es ist Heimweh. Es ist Weltschmerz. Es ist Tango, gespielt vom Orchester Atipica. Allein, die Musik von Astor Piazzolla spielt in keiner Hafenspelunke von Buenos Aires, sondern in der Steigkirche am Hallschlag. „TANGOttesdienst“.

Bei diesem Experiment trifft Kirche Religion. Und etwa 300 Menschen wagen an diesem Abend diesen Schritt ins Ungewisse, ins Anrüchige. Denn am Tango kleben allerlei Klischees. Lasterhaftes wie Provokantes. Papst Pius X. hat den sündhaften Tango sogar verboten. Und jetzt soll er plötzlich in geweihten Räumen salonfähig sein? Ausgerechnet im Stammland der Pietisten, wo selbst in manchem CVJM-Heim Tanzverbot herrscht.

Pfarrer mit Passion

Doch Pfarrer Til Bauer tänzelt einfach um die Betonköpfe herum. „Ich habe gedacht“, sagt er verschmitzt lächelnd, „der seit zehn Jahren Tango tanzende Til und der Pfarrer Bauer kommen einfach mal an einem Ort zusammen.“ Dieser Ort ist seine Kirche in Bad Cannstatt. Sie ist an diesem Abend in schummriges Rot getaucht. In ein Rotlichtviertel des Glaubens verwandelt, über dem die Losung „Hingabe“ per Projektor an die Wand geworfen ist. „Die Menschen sollen sich heute dem Tanz und Gott hingeben“, sagt Bauer, „Jesus hat uns zur Hingabe des Lebens eingeladen.“

Ein Wechselschritt also zwischen Weltlichem und Himmlischem, zu dem er seinen Kirchengemeinderat erst überzeugen musste. Dabei hat er es in seiner Argumentation wie Karl Barth gehalten, der große protestantische Theologe. „Barth hat auch immer gesagt: Wie man beten soll, steht in der Bibel. Und was man beten soll, steht in der Zeitung.“ Soll heißen: Trotz der Ausrichtung aufs Künftige leben Christen mit beiden Beinen in dieser Welt. Für Pfarrer Til Bauer spielt der Tango dabei eine Vermittlerrolle: „Tango hat etwas Spirituelles.“ Oder wie der Psalmbeter sagt: „Du hast das Klagen in Tanzen verwandelt.“

Profi-Tanzpaar begeistert

Bewiesen hat Pfarrer Bauer all das am Sonntagabend. Mit liturgischen Grundelementen wie einem Psalm-Gebet (139), dem Vaterunser und einer Mini-Predigt. Selbst klassische Kirchenlieder kommen nicht zu kurz. Aber im Mittelpunkt bleibt der Tango. Besser gesagt, die Verbindungen des argentinischen Tanzes zur christlichen Religion. Schon bevor das Stuttgarter Tanzpaar Kenneth und Sieglinde Fraser dies sehr sinnhaft zeigt, als es über den Kirchenboden schwebt, ist Kirchengemeideratsvorsitzende Claudia Böhle-Rettich von dem Tango-Experiment überzeugt: „Unsere Kirche eignet sich perfekt für diese Art von Gottesdienst.“ Sie meint die große freie (Tanz-)Fläche des Kirchenraums und den nackten Sichtbeton. „Unser Raum ist so pur, so reduziert, dass wir ihn sehr gut mit so etwas füllen können. So wird er ein Ort des Lebens, der von Gottes Wort erfüllt ist.“

Dieses Angebot nehmen in der Steigkirche an einem Sonntagmorgen manchmal nur 20 Menschen wahr. Ein Phänomen dieser Zeit, dieser Eventgesellschaft. Kirche – so traurig das für manchen klingen mag – steht in Konkurrenz mit anderen Events. In diesem Sinne sind Gottesdienste für viele in aller Herrgottsfrüh nur mäßig attraktiv. „Wir müssen etwas tun, um attraktiv zu sein“, weiß Claudia Böhle-Rettich. Das Zauberwort heißt daher: Alternativ-Gottesdienst. Die Erfolge solcher Gottesdienstformen sind beachtlich. In die Friedenskirche strömen nun seit einem Dreivierteljahr regelmäßig alle vier Wochen etwa 700 Menschen zu Gospel-Haus mit dem Gospel-im-Osten-Chor und Prediger Siegfried Zimmer.

Stadtdekan mahnt

Trotz aller Erfolge gibt Stadtdekan Sören Schwesig zu bedenken: „Überraschende Formen wie der Tango-Gottesdienst sind begrüßenswert, wenn sie theologisch gut durchdacht sind. So machen sie auch den Reichtum der Religion aus. Aber es darf nicht so sein, dass man sagt: Diese Gottesdienste sind die Zukunft.“

In der Steigkirche hat der TANGOttesdienst eine Zukunft. Noch ist nicht klar, wann zum nächsten Mal der Tango zelebriert wird. Aber nach dem ersten Anlauf ist klar: eine Fortsetzung soll folgen. Denn die Gottesdienstbesucher spüren an diesem Abend, dass der Tango etwas Meditatives hat. Wer sich einem Stück von Astor Piazzolla hingibt, wird vielleicht tiefer in seine Seele blicken, besondere Momente erspüren. Manche mögen dabei auch dem Göttlichen näherkommen. Am Ende ist es so, wie Martin Luther sagt: „Die Musik ist eine Gabe Gottes, die den Teufel vertreibt und die Leute fröhlich macht.“

Der Teufel, Gott und der Tango: In der Steigkirche tragen Pfarrer Bauer und Tangotänzer Til „diese Hingabe durch den Alltag“. Sein Credo lautet daher: „Lasst uns den Tanz des Lebens üben.“ Und dies kann an diesem Abend jeder so interpretieren, wie er will.