Wenn wir uns gedanklich im Leerlauf befinden, werden manche Hirnareale besonders aktiv. Foto: //Phillip Waterman

Das gedankliche Abschweifen hat keinen guten Ruf. Dabei können Tagträume großes Potenzial in uns wecken – wenn wir uns die Zeit dafür nehmen.

Menschen sind nicht sehr gut darin, nichts zu tun. Der US-Forscher Timothy Wilson ließ 2014 Menschen zwischen sechs und 15 Minuten allein in einem kargen Raum, nur mit einem Elektroschocker. Etwa zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen verpassten sich einen Stromschlag. Lieber Schmerzen als Langeweile. Dabei würde es den Menschen guttun, sie einfach mal zuzulassen.

Wir alle sind gute Tagträumerinnen und Tagträumer: Etwa 50 Prozent unserer Wachzeit verbringen wir mit Tagträumen, zerstückelt in bis zu 2000 Denkeinheiten, ergab eine Studie zweier Psychologen der US-Eliteuni Harvard. Und das sei – meistens – etwas Gutes.

In der Langeweile wird das Gehirn kreativ

Dass wir tagträumen, hat vermutlich damit zu tun, dass unser Gehirn nicht nichts machen kann. Das Gehirn kenne keine Pausenfunktion, heißt es in einem Beitrag im Wissenschaftsmagazin Spektrum. „Entweder es assoziiert – oder es ist tot.“

Damit Menschen ins Tagträumen kommen, benötigt man Langeweile beziehungsweise gedanklichen Leerlauf: Beschäftigen wir unser Gehirn nicht mit Aufgaben, wird ein Netzwerk aus vier Gehirnarealen aktiv, das sogenannte Default Mode Network (DMN), also Ruhemodusnetzwerk.

Menschen, bei denen das Gehirnareal besser vernetzt ist, sind auch kreativer und fantasiebegabter, zeigen einige Studien. Das kann man auch gezielt fördern – beispielsweise durch langweilige Pausen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of California 2012 herausfanden.

Forscherin: Tagträume sind eigentlich immer da

Die Forscher ließen Probanden mehrfach den sogenannten Ziegelsteintest machen. Dabei geht es darum, sich in kurzer Zeit so viele Verwendungen für einen Ziegelstein einfallen zu lassen wie möglich. In einer Pause zwischen zwei Tests wurde eine Gruppe mit schwierigeren Gedächtnisaufgaben beschäftigt. Die andere Gruppe musste einen simplen Reaktionstests erledigen – so einfach, dass man nebenbei tagträumen konnte. In der nächsten Testrunde hat die zweite Gruppe wesentlich besser abgeschnitten. Die Kreativität hatte sich gesteigert.

Kreativität kann auch trainiert werden. Die Forscherin Simone Ritter hat an der Uni Nimwegen Probanden eine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt und sie in eine Traumwelt versetzt. Näherten sie sich einem Koffer, wurde er kleiner, fiel eine Flasche vom Tisch, schwebte sie nach oben. Das Ergebnis: Menschen aus diesem Versuchsszenario hätten im Anschluss in mehr unterschiedliche Richtungen gedacht, sagte Ritter. Die Psychologin und Traumforscherin Brigitte Holzinger stellt derweil die These auf, dass Menschen „immer von inneren Bildern umgeben sind, aber je nach Zustand sind sie abrufbar.“ Die Tagträume sind also immer da, doch wir verdrängen sie mit vielen kleinen Ablenkungen wie dem Smartphone oder ständigen Terminen.

Dies wirke sich nicht nur auf die Kreativität aus. „Tagträume geben Gefühlen und Empfindungen Raum“, sagt Holzinger. Wir tagträumen nicht nur Gutes, sondern auch von Wut, Angst und Scham. Das dürfe man ruhig zulassen, sonst verdränge man etwas, sagt Holzinger, die am Wiener Institut für Bewusstseins- und Traumforschung etwa Traum- und Schlafworkshops anbietet.

Auch Wut, Angst und Scham tauchen auf

Holzingers Fazit: „Wir machen viel zu wenige Pausen. Die brauchen wir aber, um gesund zu bleiben“, sagt sie. „Man muss dabei nicht immer tagträumen, aber wir sollten Tagträume mehr würdigen.“

Tagträumen kann auch krankhaft sein

Maladaptives Tagträumen
Mit dem sogenannten maladaptiven Tagträumen existiert auch eine exzessive Form des Tagträumens, bei der sich Betroffene oft stundenlang in eine innere Welt flüchten und in ihrem Alltag beeinträchtigt sind.

Erkrankung
Experten sehen das häufig als Folge eines Traumas oder einer psychischen Erkrankung. Der israelische Psychologe Eli Somer setzt sich dafür ein, maladaptives Tagträumen als eigenständige psychische Störung zu sehen.