Das Tagebuch einer 28-jährigen Frau kommentiert das Geschehen in Plattenhardt im April 1945. Es ist eine wichtige Quelle für die historische Aufarbeitung in Filderstadt.
Plattenhardt - Ende November 2012 soll der nächste, der dann 22. Band der Filderstädter Schriftenreihe erscheinen. Er wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in den fünf Filderstädter Stadtteilen zum Thema haben. Bei der Suche nach Zeitzeugen erhielt das Stadtarchiv aus Privatbesitz eine besonders wertvolle Quelle: das Tagebuch einer damals 28 Jahre alten Plattenhardterin, die das aktuelle Geschehen mit ihren Beobachtungen, Ängsten und Befürchtungen darstellt und kommentiert. Sie wohnte mit ihrer 1943 geborenen Tochter in der Uhlbergstraße. Ihr Mann befand sich als Soldat im Krieg. Ebenfalls in ihrem Haushalt lebte ihre Tante.
„Der Feind steht vor der Tür“
„Der Feind steht vor der Tür“
Verständlicherweise spielten 1945 die häufigen Fliegeralarme eine wichtige Rolle, obwohl Plattenhardt bei diesen Angriffen vergleichsweise glimpflich davon kam. „Gestern haben Tiefflieger eine Scheune in Brand gesetzt bei Mutters Verwandten.“ Laut ihren Aufzeichnungen waren es nicht selten drei oder sogar noch mehr Fliegeralarme pro Tag. Dennoch findet sich im Tagebuch kein Hass gegen die Piloten, „aber unter denen [feindlichen Fliegern] wird es halt auch solche und andere geben, wie bei uns auch“, schreibt die junge Frau am 9. April 1945.
Trotz der offiziellen deutschen Propaganda war ihr klar, dass der Krieg längst verloren war. Immer mehr kritisiert sie die Durchhalteparolen des NS-Regimes. Sie klagt darüber, dass „unsere Regierung … kein Einsehen [hat], die singen noch, wenn alles kaputt ist und unsere liebe Heimat als eine Wüste da liegt ... Der Feind steht vor der Tür. Ach, wenn es nur vollends schnell ginge, den Feind fürchte ich nicht, die Unseren kommen mir schlimmer vor.“ (6. April)
Eine sehr wichtige Rolle spielt die Sorge um ihren Ehemann an der Front. Vielfach ist ihr Tagebuch ein Dialog mit ihm: „Wie lange soll es noch dauern, diese Qual und Pein. ... immer die große Sorge ‚Lebst Du noch oder bist Du nicht mehr unter den Lebenden zu finden?‘“ (5. April). „Ich bin in großer Angst und Sorge um Dich, habe ich doch seit letzten Montag keine Post mehr bekommen und weiß auch nicht, ob ich je einmal wieder ein Lebenszeichen von Dir bekomme.“ (9. April). Besonders diese Ungewissheit setzt der Schreiberin schwer zu.
Je näher jedoch die französischen Truppen heranrücken, desto größer wird ihre Sorge. „Was werden die nächsten Tage bringen?“, schreibt sie am 11. April. Bald darauf fährt sie fort: „Gottes Gericht liegt schwer auf unserem Vaterlande, wie wird es noch gehen? Auf alle Fälle nicht gut. Aber komme immer, was wolle, der Herr ist mit uns, er ist unser Schutz“ (17. April).
Zwei Tage später: „Heute ist ein ganz aufgeregter Tag, ist es doch nicht mehr weit, bis der Feind bei uns ist. Auf Waldenbuch wurde heute schon mit der Artillerie hereingeschossen. Vor Weil im Schönbuch sitzt der Feind, Holzgerlingen ist schon gefallen.“
Der Einmarsch am 20. April 1945
Der Einmarsch am 20. April 1945
Die Ereignisse beim Einmarsch hat der damalige Plattenhardter Pfarrer Ewald Schmid in einem Bericht zusammengefasst: „Am 20. April 1945 fand in Plattenhardt um 8 Uhr morgens der übliche Bittgottesdienst in der Kirche statt. Noch während des Gottesdienstes gibt es Fliegeralarm. Gerüchte besagen, die Feinde (Amerikaner oder Franzosen?) seien über Waldenbuch schon bis zur Burkhardtsmühle vorgedrungen. Man bereitet sich auf einen längeren Aufenthalt im Keller vor. Der elektrische Strom versagt. Gegen 16 Uhr wird mit Handsirenen Panzeralarm gegeben. Die Einwohnerschaft begibt sich in die Keller. Der Bürgermeister sucht in seinem Kraftwagen das Weite. Von Süden her rollen nun die feindlichen Panzer und Panzerspähwagen in das Dorf herein, ohne Widerstand zu finden. Bald ist festzustellen, dass es Franzosen und keine Amerikaner sind. Es wird anfangs heftig geschossen, auch auf Rathaus und Kirche mit MG [Maschinengewehren]. Eine Handgranate explodiert im Pfarrgarten. Größerer Schaden wird jedoch nirgends angerichtet. Der Mesner stellt sich schließlich mit der Kirchenfahne auf dem erhöhten Kirchplatz über der Straße auf. Von diesem Augenblick an wird nicht mehr geschossen. Bald halten die feindlichen Wagen im Ort. Die Bevölkerung kommt aus den Kellern auf die Straße, bringt auch bald den Franzosen Most zu trinken und zeigt sich nicht eben betrübt über diese Entwicklung der Dinge… Schließlich fahren die Wagen wieder ab und es ist wieder ganz ruhig. In der Nacht schlafen viele Leute im Keller. Um Mitternacht gibt es noch einmal Unruhe. Vor dem Pfarrhaus halten verschiedenen Panzer. Die aussteigenden Franzosen dringen in das dem Pfarrhaus gegenüber liegende große Mietshaus der Gemeinde ein, treiben die Bewohner raus ihren Schlafzimmern und quartieren sich dort ein. Ins Pfarrhaus kommt niemand.“
Zwölf Stunden Ausgangssperre
Zwölf Stunden Ausgangssperre
Die Tagebuchschreiberin hat die Ereignisse auch festgehalten. Über den folgenden Tag schreibt sie: „Der heutige Tag verlief so weit ruhig. Es kam halt immer Nachschub. Auch durchstöberten sie die Häuser. … Radios, Fotoapparate und Telefone mussten abgegeben werden, zu mir kam einer [der Franzosen], Quartier machen.“ Zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens herrschte Ausgangssperre. „Ein dummes Gefühl hat man doch, denn es ist halt doch der Feind. Will auch sehn, wie es weiter geht.“ Sie schloss den Eintrag für diesen 21. April mit den Worten „Ist das nicht eine Züchtigung für unser ganzes deutsches Volk, das immer so stolz und voller Kraft war und nun besiegt am Boden liegt? Was wird noch kommen? Es wird noch nicht vorbei sein.“
Am Sonntag, 22. April, begann bereits ein Stück Normalität, Pfarrer Schmid hatte bei den französischen Truppen die Erlaubnis erhalten, einen Gottesdienst abzuhalten. Umso schlimmer waren die Ereignisse am darauf folgenden Montag. Ein Plattenhardter hatte gegenüber den Franzosen behauptet, dass sich noch SS-Männer im Dorf versteckt hielten. Darauf rückte eine Abteilung Marokkaner in den Ort ein.
Die Tagebuchschreiberin beschrieb diesen Tag voller Angst vor Übergriffen der Marokkaner. „Jetzt ist es weit gekommen, wenn man Frauen und Mädchen verstecken muss.“ Der Tagebuchschreiberin selbst gelang es, sich an diesem Tag versteckt zu halten. „Ist dies heute doch auch bei uns vorgekommen, daß sie Frauen vergewaltigten.“ (23. April)
Auch am folgenden Tag schreibt sie. „Du glaubst gar nicht, wie unsere Nerven angespannt sind aus lauter Angst und Sorge, was wird die Zukunft bringen. … Weißt Du überhaupt, in was für einer Gefahr wir Frauen und Mädchen sind?“ Dennoch äußert sie keinen Hass gegen die Franzosen, sondern sieht die Ereignisse als eine Konsequenz der deutschen Kriegspolitik. „Daran ist nur unsere schöne Führung schuld.“
Allmählich schien sich aber die Lage zu verbessern. „Ich will nicht murren, sondern stille sein. Die vergangene Nacht war es ruhig und auch heute marschierten keine Truppen durch und wir blieben verschont“ (24. April). Am selben Tag mussten alle Männer zwischen 17 und 45 Jahren zu einem Appell antreten. „Die, die keinen Wehrpass hatten, nahmen sie mit nach Waldenbuch.“ In diesen Tagen wurden 21 Plattenhardter in französische Kriegsgefangenschaft abgeführt.
Umzug zur Tante
Umzug zur Tante
Anfang Mai notiert sie, dass vier französische Soldaten in ihrem Haus einquartiert wurden. Sie musste ihre Wohnung im Erdgeschoss mir ihrer kleinen Tochter räumen und zu ihrer Tante ins Obergeschoss umziehen. „Kannst Dir denken wie es mir zu Mute ist, obwohl es sehr nette, anständige Kerle sind. Kann mich also nicht beklagen.“ Zu ihrer großen Erleichterung konnte sie am 8. Mai notierten: „Heute Morgen sind die Soldaten wieder weiter[gezogen]. Gott sei Lob und Dank, musste ich sagen“ (8. Mai).
Ein Stück Normalität erlebt die junge Frau schließlich wenige Tage später an Himmelfahrt. „Heute dürfen wir das erste Mal nach vielen Jahren wieder das Fest der Himmelfahrt feiern. Ist das nicht auch ein Sieg für unsere Kirche. Zu allem Leid und Enttäuschung haben wir noch Grund genug zu danken. … Unsere Kirche war heute so voll wie noch nie. Die Bänke reichten nicht aus, man musste noch Bänke in die Gänge stellen. Warum jetzt auf einmal? Vorher eine leere Kirche.“
„Wir warten jeden Tag auf Dich“
„Wir warten jeden Tag auf Dich“
Das Tagebuch wurde bis zum Januar 1946 fortgeführt, wenn auch nicht mehr täglich. Erwähnt wurde beispielsweise der Abzug der Franzosen Anfang Juli und der Einzug amerikanischer Truppen. Im November wurde die Ankunft der ersten 62 Heimatvertriebenen erwähnt. Während des ganzen Jahres lastet aber die Angst die Ungewissheit um ihren Ehemann. „Wieder Sonntag und immer sind wir noch allein. Weißt [Du], wir warten eben jeden Tag auf Dich“ (2. September).
Das Tagebuch endet im Januar 1946. Ihr Mann war zwar noch immer nicht zurück, allerdings stand sie mit ihm per Post in Kontakt. Sie erfuhr, dass er sich in französischer Kriegsgefangenschaft befand. Tatsächlich kehrte er einige Monate später nach Plattenhardt zurück.