Pfefferspray schafft in erster Linie eine Scheinsicherheit. Foto: APA/dpa

Sexualdelikte in der Silvesternacht, Terrorangriffe, übergriffige Clowns, Einbruchswellen: Deutschland ist verunsichert. Und bewaffnet sich. Was macht das mit den Menschen?

Mainz/Hannover - Deutschland rüstet auf. Die Zahl der Waffenscheine für Schreckschusswaffen steigt rapide, Hunderttausende kaufen sich Reizgas und Pfefferspray, Selbstverteidigungskurse sind ausgebucht. Viele Menschen treibt ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, eine generelle Furcht.

Zu ihnen gehört auch die 33 Jahre alte Kristina aus Mainz. Vor wenigen Tagen hat sie in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz ein Pfefferspray gekauft. „Kann ja nicht schaden“, habe sie gedacht, schließlich gebe es in ihrer Wohngegend einige dunkle Ecken. Auch fährt sie bald nach Leipzig und meint: „Ehe man sich da irgendwelchen schrägen Gestalten ausgeliefert sieht - dann lieber bewaffnet.“

Die Kriminalität steigt nicht

Dabei steigt die Kriminalität gar nicht. Die Zahl der Straftaten ohne Asyl- und Aufenthaltsdelikte, welche durch die hohe Zahl von Flüchtlingen bedingt ist, blieb in der jüngsten Kriminalstatistik 2015 nahezu konstant. Das gilt auch für die Gewaltkriminalität. Die Zahl der Opfer sank sogar, auf 880 925.

Doch viele Menschen haben Angst - und denken dabei an die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln, den Terroranschlag in Berlin, die Attentate in München und Würzburg, die Angriffe von Horror-Clowns. Und an Gewalttaten von Flüchtlingen sowie Vergehen, die ihnen nur wegen manipulierten Geschichten zugeschrieben werden.

„In solche Situationen kommen die Menschen aber normalerweise nicht, sie kommen höchstens in Alltagskonflikte“, sagt Reinhard Kreissl, Chef des Wiener Zentrums für Sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung. Sie stritten sich also eher mit dem Ehepartner, einem Nachbarn oder einem anderen Autofahrer. Aber: „Je mehr Waffen wir im Umlauf haben, desto eher eskalieren diese Konflikte.“

Waffen bieten nur eine Scheinsicherheit

Die Zahl der Kleinen Waffenscheine, die man für Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen braucht, hat sich laut Bundesinnenministerium seit Dezember 2014 fast verdoppelt, von 262 500 auf 485 245. Bei den frei verkäuflichen Abwehrmitteln ist der Verkauf noch drastischer gestiegen. Nach Angaben des Verbands Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler waren es 2016 doppelt so viele wie 2015; in Großstädten stieg die Zahl sogar auf das Vier- bis Fünffache.

Der Weiße Ring, die größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, sieht die Entwicklung mit Sorge. Er rät davon ab, in brenzligen Situationen Waffen einzusetzen. „Diese können unter Umständen vom Täter gegen das Opfer selbst verwendet werden.“ Auch könnten Unfälle passieren, etwa wenn das Pfefferspray durch Wind dem Angegriffenen in die Augen weht.

Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft warnt: „Das sind keine Spielzeuge.“ Und ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagt, er betrachte die Entwicklung mit Sorge: „Die Waffen bieten nur eine Schein-Sicherheit.“

Soziale Unsicherheit schürt Ängste

Mit Waffen wollten die Menschen ihr Leben selbst in der Hand behalten, selbstbestimmt sein - doch das funktioniere nicht, sagt Dominic Kudlacek, stellvertretender Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Denn ein Pfefferspray könne das Negative, das Furcht bereite, nicht beseitigen. „Es ist nur ein Versuch der Kompensation“, sagt Kudlacek.

Die Psychologin Sabine Nowara, die an der Universität Köln am Institut für Kriminologie forscht, geht noch weiter: „Wenn jemand immer ein Abwehrmittel dabei hat, fühlt er sich wahrscheinlich unsicherer.“ Wer ständig die Hand an der Tasche habe in der Erwartung, dass gleich etwas passiere, sei ängstlicher. Die vermeintliche Wehrhaftigkeit sei trügerisch.

Der Kriminologe Kudlacek sieht bei der Furcht derzeit einen „Schub“, der Soziologe Kreissl spricht von einer „epochalen Verunsicherung“. Als eigentliche Ursache für die Angst vor Kriminalität macht er eine soziale Unsicherheit aus. „Es ist nicht der schwarze Mann hinter der Ecke, der mich überfällt, sondern die Unsicherheit kommt von sozialen Fragen: Wie geht es in einer sich verändernden Ökonomie beruflich weiter, kann ich meine Wohnung behalten, was ist mit mir im Alter?“

Abwehrwaffen werden in Drogeriemärkten verkauft

Die Abwehrwaffen sind so gesellschaftsfähig geworden, dass sie in Drogeriemärkten unter dem Karnevalsbedarf verkauft werden. In Mainz wirbt ein Waffenhändler in der Fußgängerzone mit einem Elektroschocker „Pink Lady“ mit 500 000 Volt. Darunter hängt ein ebenso rosafarbener Abwehrstock und eine 120 Dezibel laute Alarmbox. Es gibt auch Pfefferspray, das aussieht wie ein Lippenstift.

Glücklicherweise, meint Soziologe Kreissl, seien die richtig gefährlichen Waffen in Deutschland nicht so einfach zugänglich - Zustände wie in den USA seien also nicht zu erwarten. Trotzdem müsse man immer wieder aufklären und sagen: „Bei Tageslicht gesehen haben wir eine gute Sicherheitslage.“ Er bittet: „Fürchtet euch nicht.“

Der Weiße Ring

Der gemeinnützige Verein Weißer Ring setzt sich für Opfer von Straftaten ein. 3200 ehrenamtliche Mitarbeiter haben ein offenes Ohr und Rat für Geschädigte, helfen nach einer Straftat bei Behördengängen, organisieren psychologische Betreuung und juristischen Beistand. Im Notfall hilft der Verein auch finanziell.

Mit dem Tag der Kriminalitätsopfer am 22. März macht die 1976 gegründete Hilfsorganisation auf die Probleme der Betroffenen aufmerksam, die Hilfe und gesellschaftliche Solidarität brauchen. Auf Plakaten, Videos, Flyern und im Internet werben Prominente, darunter mehrere „Tatort“-Kommissare, für Spenden und aktives Engagement.

Weißer Ring fordert mehr Psychotherapeuten für Kriminalitätsopfer

Betroffene von kriminellen Taten brauchen nach Ansicht der Opferschutzorganisation Weißer Ring schnell Zugang zu einem Psychotherapeuten. Die Krankenkassen sollten deswegen mehr Therapeuten zulassen, forderte die Organisation mit Sitz in Mainz kurz vor dem Tag der Kriminalitätsopfer am Mittwoch. So könne Betroffenen effektiver geholfen werden.

„Opfer sind nach einer Straftat nicht nur körperlichen, sondern auch enormen seelischen Belastungen ausgesetzt“, erklärte die Weiße-Ring-Vorsitzende Roswitha Müller-Piepenkötter. „Je länger sie auf einen Therapieplatz warten müssen, desto schlimmer und auswegloser empfinden sie ihre Situation.“

Lange Wartezeiten

Der Weiße Ring fordert, dass die Wartezeit für einen Patienten maximal fünf Wochen betragen soll. Die Opferorganisation zitiert eine Studie der Psychotherapeutenkammer, wonach rund ein Drittel aller Patienten länger als drei Monate auf ein Erstgespräch bei einem Therapeuten wartet. Die Unterversorgung sei im ländlichen Raum besonders ausgeprägt.

Die Traumatherapie bietet laut Weißem Ring gute Möglichkeiten, Opfer von Straftaten zu behandeln. Sie litten oft unter Angstzuständen, Selbstzweifeln und großer Verunsicherung. Der Weiße Ring stellt unter anderem Hilfschecks für eine psychotraumatologische Erstberatung aus.