Ökumenischer Gottesdienst am Tag der Deutschen Einheit: Bundespräsident Joachim Gauck, seine Lebensgefährtin Daniela Schadt, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Kanzlerin Angela Merkel, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seine Frau Gerlinde (v. li.) in der Stiftskirche. Mehr Impressionen von den Feierlichkeiten am 2. und 3. Oktober finden Sie in unserer Bildergalerie. Foto: Leif Piechowski

„Temperamentvoll“ fand die Bundeskanzlerin die Einheitsfeiern in Stuttgart. Ein paar schwerere Botschaften haben die Festredner trotzdem an die illustre Gästeschar gebracht.

Stuttgart - Glocken läuten, und Posaunen schmettern. Unter stahlblauem Herbsthimmel versammeln sich die Edlen der Nation: Selbst abgebrühte Naturen können sich der erhabenen Atmosphäre nicht entziehen, als am Donnerstagmorgen die offiziellen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit beginnen. Während es in der Partyzone bereits aus den Gläsern unterm Zapfhahn schäumt, stimmt sich hinter Absperrungen eine festlich gestimmte Schar auf den Gottesdienst ein.

Die Stimmung der Besucher beim Bürgerfest im Video.

Die Stiftskirche bietet kaum Platz für die tausend geladenen Gäste, unter ihnen viele Ministerpräsidenten und Botschafter, Generale, Bischöfe und Abgeordnete. Bundespräsident Joachim Gauck hält sich schon seit dem Vorabend in Stuttgart auf. Er nimmt auf Einladung von Gastgeber Winfried Kretschmann am Essen der Ministerpräsidenten im Haus der Geschichte teil. Es gibt Zanderfilet auf Alblinsen und ein „Duett vom Stauferrind“. Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt erst am Morgen mit dem Flieger.

Pünktlich um 10 Uhr erklingt der Eröffnungschoral: „Nun singt ein neues Lied dem Herrn.“ Es ist ein kurzweiliger Gottesdienst mit viel Musik, Tanzeinlagen und Gedankenanstößen zu sehr weltlichen Problemen: Sie handeln von Jugendarbeitslosigkeit und Menschen mit Behinderungen, vor allem aber von der deutsch-französischen Aussöhnung.

Gauck erscheint als Letzter

Der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch beschwört in seiner Predigt die Kraft des Glaubens und zeigt sich überzeugt: „Gott hat bei der Einheit seine Finger mit im Spiel gehabt.“ Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July nennt die Einheit ein Gottesgeschenk.

Vor der Liederhalle, wo der offizielle Festakt stattfindet, versammeln sich derweil mit lärmender Routine Stuttgart-21-Demonstranten, um die erlauchte Schar mit Trommeln und Pfeifen zu empfangen. Die bekommt davon allerdings wenig mit – sie wird mit Bussen herangefahren.

Alles, was Rang und Namen hat, gibt sich die Ehre: das halbe Bundeskabinett, darunter Innenminister Hans-Peter Friedrich und Außenminister Guido Westerwelle. Hier plaudert Ex-Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee mit seinem früheren baden-württembergischen Amtskollegen Rudolf Köberle, dort unterhalten sich die Altministerpräsidenten Lothar Späth und Erwin Teufel. Schauspieler Walter Sittler ist ebenso gekommen wie der Kabarettist Matthias Richling, SPD-Urgestein Erhard Eppler ebenso wie LBBW-Chef Hans-Jörg Vetter.

Gauck erscheint als Letzter. Als er zu seinem Platz schreitet, erheben sich die Gäste, und das Landesjugendorchester Baden-Württemberg stimmt den zweiten Satz von Joseph Haydns Kaiserquartett an, jener Melodie, die später zum Deutschlandlied wird. Als musikalischer Leitfaden, mal klassisch, mal modern variiert, zieht sie sich durch den 75-minütigen Festakt.

Überhaupt hat die Feier einen heiter-humorvollen Unterton

Zunächst aber stimmen Bilder und Zitate – multimedial an eine riesige Leinwand projiziert – auf das Thema Einheit ein. Der berühmte Satz „Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein“ von US-Präsident Ronald Reagan steht da zu lesen. Oder ein Ausspruch des Dichters Heinrich Heine, dem es Deutschland einst so schwer gemacht hat: „Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ Da lacht die Festgemeinde.

Überhaupt hat die Feier einen heiter-humorvollen Unterton. „Fröhlich“ solle das Bürgerfest sein, findet Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seiner Ansprache als Präsident des Bundesrats. Es grenze schon ans Wunderbare, dass damals eine Diktatur von Menschen gestürzt worden sei, die mit brennenden Kerzen aus der Kirche kamen. Und mit einem Blick auf die vor ihm sitzende Bundeskanzlerin: Jetzt werde sie ja eine „fröhliche Regierung“ bilden.

Doch Kretschmann hat auch eine schwerere Botschaft für die Gäste. Es geht ihm darum, dass die Länder ihre Finanzbeziehungen untereinander in Ordnung bringen. Eine dritte Föderalismuskommission müsse sich ans Werk machen, müsse „schaffe“, wie er es schwäbisch ausdrückt.

Allerhand Geistesgrößen erscheinen auf der Leinwand

Das ist das Stichwort für ein kleines ironisches Selbstporträt des Gastgeberlands. Schiller und Hebel, Benz und Bosch – allerhand Geistesgrößen erscheinen auf der Leinwand. Das Auto darf natürlich nicht fehlen. Doch dann nimmt die Stuttgarter Tanztruppe des Schwabokanadiers Eric Gauthier die Kehrwoche auf die Schippe – und jeder im Saal weiß, was gemeint ist.

Dann eine Premiere. Bundespräsident Gauck, der Mann aus dem Osten und frühere Bürgerrechtler, hat bisher noch nie auf einer Einheitsfeier geredet. „Liebe Landsleute“, hebt er an und nennt die Wendezeit die „beglückendste“ seines Lebens. Dann kommt er aufs große Ganze. Deutschland sei ein starkes Land, mit seinem Gesellschaftsmodell sogar Vorbild. Daraus leitet er Herausforderungen ab.

„Ich werde diese Stunden in meinem Leben niemals vergessen“

Erstens, zweitens, drittens. Das Staatsoberhaupt hat seine Rede klar gegliedert. Einfach, aber eindringlich legt Gauck dar, was er für die drängendsten Probleme hält. Erstens, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernimmt und sich nicht wie ein „schlafwandelnder Riese“ gebärdet. Zweitens, dass der Datenschutz so wichtig wird wie der Umweltschutz – angesichts der digitalen Revolution. Und drittens, dass auch sozial Schwächere eine gute Bildung erhalten. Mehrere Male wird er von Beifall unterbrochen. Er trifft den Ton, ermahnt zwar, aber belehrt nicht, sondern sagt: „Ich sehe unser Land als eine Nation, die Ja sagt zu sich selbst.“

Draußen beim Stehempfang – es gibt schwäbische Spezialitäten wie Gaisburger Marsch und Maultaschen – sind überwiegend zufriedene Kommentare zu hören. Aber auch nachdenkliche. Daimler-Chef Dieter Zetsche sagt: „Mir hat die Feier sehr gut gefallen. Sie war nicht zu staatstragend, sondern hat eine gute Stimmung über unser Land transportiert.“ Beim Thema deutsche Einheit empfinde er jedes Mal aufs Neue eine „unglaubliche Emotionalität“ und habe große Mühe, „die Tränen zu unterdrücken“. Im Moment des Mauerfalls war Zetsche in Argentinien. „Ich werde diese Stunden in meinem Leben niemals vergessen.“

Modedesigner Glööckler im schrillen Pink-Outfit mit silbern glänzenden Igelschuhen

Annegret Kramp-Karrenbauer, Ministerpräsidentin aus dem nahen Saarland, sagt: „Ich erinnere mich noch gut an den Mauerfall. Mein Mann hatte Spätschicht, und ich bin die ganze Nacht aufgeblieben und habe Fernsehen geschaut.“ Es sei richtig, jedes Jahr mit dem Tag der Einheit an die Wiedervereinigung zu erinnern. Dem scheidendem Außenminister geht es ähnlich. Damals, in den Stunden, als die Mauer fiel, büffelte Jura-Student Guido Westerwelle gerade für sein Referendariat: „Ich habe alles zur Seite gelegt und saß gebannt vor dem Fernseher.“

Und was meint Modedesigner Harald Glööckler? Er kommt am Donnerstag im schrillen Pink-Outfit mit silbern glänzenden Igelschuhen zum Festakt in die Stuttgarter Liederhalle und empfindet „eine große Genugtuung, dass wir Deutschen die Einheit feiern können“. Es sei „wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass es nicht immer ein gemeinsames Deutschland gab“.

Bei so viel Lob mag die Bundeskanzlerin nicht hintanstehen. „Das war ein sehr temperamentvoller Festakt, der mir gut gefallen hat. Baden-Württemberg hat sich sehr gut präsentiert.“ Gastgeber Winfried Kretschmann, gleich daneben, hört das gerne: „Ich habe das Gefühl, wir haben unser Land in seiner schönsten Seite dargestellt.“