Am Donnerstag nimmt das Land sich frei – aber viel mehr als ein langes Wochenende bedeutet uns die Einheit nicht. Warum vergeben wir die Chance, uns die Wende als gemeinsame Geschichte anzueignen, fragt unsere Kolumnistin Katja Bauer.
Berlin - Am Donnerstag nimmt das Land sich frei, wie jedes Jahr am 3. Oktober. Diesmal ist die Konstellation ideal für ein Brückentagswochenende. Regnen soll es auch nicht. Und sonst? Besser kann es gar nicht laufen mit der deutschen Einheit, wenn die Aufregung derart gering ist, oder?
Das Gegenteil stimmt, leider. 30 Jahre ist es her, dass in der DDR viele Menschen sehr viel Mut zusammennahmen – in einem Maß, von dem jenseits der Mauer niemand auch nur eine Ahnung hatte. Und zu haben brauchte. Dass sie sich zu einem Weg mit ungewissem, ja gefährlichem Ausgang entschieden, und am Ende gewaltfrei eine Revolution in Gang setzten. Es wird gern vergessen, wie lange nach dem 9. November 1989 den Deutschen auf DDR-Gebiet diese Ungewissheit über den Ausgang des Wagnisses im Leben noch blieb – viele wussten über Jahre nicht, wie es für sie weitergeht. Sie mussten sich ihr Leben komplett neu zusammensetzen, weiter mutig sein, wo sie es gar nicht selbst gewollt hatten, sie wurden in einem Maß infrage gestellt, wie es jenseits der Mauer niemandem passierte. Die Menschen im Westen hatten es leichter. Der Herbst 89 verlangte ihnen zunächst mal nicht mehr an Entscheidung ab als ein Ja oder Nein zu Gänsehaut, Freudentränen, Verwandtenbesuch. Die Revolution ist nicht mal ein halbes Menschenalter her, sie ist jüngste Zeitgeschichte. Und wenn man so auf die Kapitel davor schaut, dann wäre die Geschichte vom Umsturz der Mauer und der Wiedervereinigung eine, die das Zeug dazu hätte, mit großer Begeisterung erzählt zu werden. Das geschieht viel zu wenig.
Ab ins Archiv mit den Heldengeschichten
Die Gefühle von damals, der besonnene Wagemut, die friedliche Kraft der vielen – sie tragen nicht bis heute. Weniger denn je scheint es die Chance und den Wunsch zu geben, sich die unglaublichen Ereignisse von 89 als gemeinsame Geschichte zu eigen zu machen. Wir spüren lieber dem Riss nach, der das Land durchzieht. Grau und matt verlaufen die Debatten, so wie letzte Woche im Bundestag, als der jährliche Bericht des sogenannten Ost-Beauftragten der Bundesregierung diskutiert wurde. Wir reden über fehlende Dax-Konzerne im Osten und Niedriglöhne. Darüber muss man reden. Aber es ist nicht der allein bestimmende Teil der Geschichte dieser Wende. Gefeiert wird professionell von oben, es gibt Planungsstäbe dafür. Man muss es ja nicht gleich US-Amerikanern zu ihrem Unabhängigkeitstag gleichtun und sich zu paneuropäischen Einheitspicknicks versammeln. Aber man könnte. Und wenn uns das nicht schwermütig genug ist, dann könnten wir doch jedes Jahr im kalten Winter die Dickköpfigen hochleben lassen, die die Stasizentralen besetzt hielten. Aber es kommt uns nicht in den Sinn.
Gerade eben hat der Bundestag beschlossen, die Akten der Stasi-Unterlagenbehörde ins Bundesarchiv zu überführen. Das ist vermutlich total vernünftig. Aber es entwertet etwas historisch Einzigartiges: dass Bürger sich aus schierem Gerechtigkeitswillen zusammenfanden, um Geheimdienstakten vor der Vernichtung zu schützen und so einen entscheidenden Beitrag zur historischen Aufarbeitung eines Unrechtsregimes leisteten. Das wäre ein Denkmal wert. Wir archivieren lieber. Anscheinend nicht nur Akten, sondern auch Gefühle und damit die Chance auf besten Stoff für Demokratiefans.
Vorschau Am kommenden Dienstag, 8. Oktober, schreibt an dieser Stelle unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.