Zwangsverheiratung ist kein Einzelfall, wird aber selten aufgedeckt. Foto: dpa

Zwangsehen kommen in Deutschland öfter vor als vermutet. Auch Menschen mit Behinderung und Homosexuelle sind betroffen.

Stuttgart - Das erste Mal mit dem Thema Zwangsheirat in Berührung kam Swantje Köbsell als junge Referendarin. Damals besuchte die Behindertenpädagogin die Familie einer Schülerin mit leichten geistigen Einschränkungen und bat die Familie darum, ihre Tochter beim Lesen, Schreiben und Rechnen mehr zu unterstützen. Dass das Mädchen die Schule besuche, habe doch keinen Sinn, erklärte der Vater. Es werde ja doch verheiratet, und deshalb wäre es besser, wenn es einfach zu Hause bliebe und von seiner Mutter lerne, wie man kleine Kinder versorgt und den Haushalt erledigt.

Heute, über zwei Jahrzehnte später, ist Zwangsverheiratung noch immer ein Problem – und ein Tabu. Wie viele junge Frauen und auch Männer in Einwandererfamilien betroffen sind, ist nicht bekannt. Nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums von 2011 lassen sich jährlich etwa 3500 Personen bundesweit zu diesem Thema beraten. An die vom Integrationsministerium Baden-Württemberg unterstützte Online-Beratungsstelle Sibel wandten sich 2014 insgesamt 248 Hilfesuchende, darunter 74 Mädchen und junge Frauen aus Baden-Württemberg. Die mobile Beratungsstelle Yasemin der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart verzeichnete im vergangenen Jahr 197 Beratungsfälle, darunter waren auch zwei Paare und vier junge Männer. Die Zahl der Ratsuchenden sei in den vergangenen Jahren leicht gestiegen, sagte Integrationsministerin Bilkay Öney am Montag bei einer Tagung in der Katholischen Akademie in Stuttgart. „Deshalb müssen wir wohl von einer relativ hohen Dunkelziffer ausgehen.“

Zu den Betroffenen zählen auch Menschen mit Behinderungen sowie Homosexuelle. Junge Frauen mit Einschränkungen würden unter dem Vorwand einer finanziellen Absicherung von ihren Familien in ungewollte Ehen gedrängt, sagte Swantje Köbsell, Professorin an der Alice-Salomon- Hochschule in Berlin. Nach einer Studie aus dem Jahr 2012 sind Frauen mit Behinderungen deutlich öfter von Gewalt betroffen als nicht Behinderte. „Bei sexualisierter Gewalt geht es zumeist nicht um Attraktivität, sondern um Macht“, so Köbsell. Frauen mit Einschränkungen seien häufig abhängig von der Unterstützung anderer und würden als wehrlos angesehen. Viele seien isoliert und hätten niemanden, dem sie sich anvertrauen könnten, wenn sich jemand an ihnen vergreife. Auch werde ihnen häufig nicht geglaubt. Eine Studie zu behinderten Männern ergab, dass diese ebenfalls öfter unter Gewalt leiden – aber eher im Erwachsenenalter. Teilweise würden solche Beziehungen auch gesucht, weil sich Partner damit ein Aufenthaltsrecht verschaffen können, sagte Öney.

Auch Homosexuelle suchen Hilfe

Hilfe, etwa beim Fraueninformationszentrum, suchen aber auch homosexuelle Frauen und Männer. Deren geschlechtliche Orientierung ist vielen Familien ein Dorn im Auge und solle durch eine arrangierte Heirat verborgen bleiben, sagte eine Beraterin.

Um Betroffene zu unterstützen, sei eine größere Sensibilisierung von Lehrern, Sozialarbeitern und Mitarbeitern in der Behindertenhilfe notwendig, forderte Köbsell. Zudem müssten die Zugänge zu den Fachdiensten erleichtert werden, sagte Monika Memmel vom der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart. Dabei soll auch die neue Broschüre „Zwangsverheiratung geht uns alle an!“ des Integrationsministeriums und der Aktion Jugendschutz helfen. Dort finden sich unter anderem auch Beratungsstellen.