Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff heftet sich dem Jenseitswanderer Dante an die Fersen. Foto: Archiv

„Das Pfingstwunder“ von Sibylle Lewitscharoff steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Die Büchnerpreisträgerin widmet sich darin in Dantes „Göttlicher Komödie“. Doch aus Lesefrüchten allein, wird noch kein großer Roman.

Stuttgart - Ein paar Wissenschaftler treffen sich auf einem Dante-Kongress in Rom, schwafeln über die „Göttliche Komödie“ und werden am Ende entrückt. Alle bis auf einen, der darüber einigermaßen geknickt ist. Das ist im Kern der Inhalt von Sibylle Lewitscharoffsneuem Roman „Das Pfingstwunder“, der Rest ist Dante. Seit die in Stuttgart geborene Autorin 2013 mit dem Büchnerpreis geadelt wurde, lässt sie ihre Leser immer häufiger so ratlos zurück, wie seine entflatterten Kollegen den traurigen Rest-Philologen des Romans. Anders als diese freilich redet Lewitscharoff nicht in Zungen, sondern in ihrem eigenen Idiom, jenem Gemisch aus schwäbischer Raubautzigkeit und barocker Sprachlust, das sie in ihren besseren Büchern einmal literaturfähig gemacht hat. Leider hat es viel von seinem Urwüchsigkeitszauber verloren, seit die vielgefragte Vortragsreisende und frisch bekehrte Kämpferin der Gegenreformation in gleichsam apostolischer Mission immer wieder reaktionäre Sottisen gegen allerlei fortschrittliches Teufelswerk damit einkleidet. Versuche, sich augenzwinkernd als Krimiautorin ein neues Terrain zu erschließen, endeten zuletzt mit der fad floskelnden Detektivgeschichte „Killmousky“ in der Genre-Sackgasse.

Nun legt sie entschieden den Rückwärtsgang ein, um als poeta docta wieder in jene akademisch geweihten Zonen zurückzustoßen, in denen sie mit dem Gelehrten-Roman „Blumenberg“ über den gleichnamigen Philosophen den letzten literarischen Lorbeer einfahren konnte. Und sie gibt dabei ganz schön Gas, bis im Rückspiegel eines der erhabensten Bildungsmassive des katholischen Abendlands aufscheint: das einschüchternde, von unzähligen Kommentaren, Übersetzungen und künstlerischen Anverwandlungen überwucherte Terzinengebirge, in dem Dante von seiner dreitägigen Jenseitsreise zwischen Karfreitag und Ostersonntag des Jahres 1300 berichtet. Sicher ein immer lohnenswerter, gleichwohl mühsamer Gegenstand für die Lektüre. Aber auch für einen Roman?

Schwatzschwatz ist entschieden zu wenig

Die Wissenschaftler, die Lewitscharoff aufbietet, würden bei dem, was dieses Buch versucht, wohl von einem intertextuellen Spiel sprechen. Leider liest es sich über weite Strecken so trocken wie ein Kongressbericht, auch wenn die Autorin ihren Erzähler mit einer hochgetunten Sprache ausstaffiert, die zwischen abgestandener Pennäler-Flottheit und prätentiösen Altertümeleien aber eben nicht funkelt, sondern eher wie billiges Talmi gleißt. Auf jeder dritten Seite ein „hochmögend“ im munteren Kontrapunkt mit so aufgekratzt verschmockten Wendungen wie „ein Gläschen intus“ oder „Eigenbraus“ im Ohr haben. „Schwatzschwatz, ich rede hier so betulich vor mich hin, ein bisschen wie ein Provinzreporter, der ins Schwafeln kommt“, heißt es einmal, dem möchte man nicht widersprechen. Und natürlich darf auch hier ein Symboltier nicht fehlen, wie es sich durch alle Romane Lewitscharoffs trollt, diesmal ein niedlicher Terrier, der permanent „Heiterkeitserfolge“ erntet. Schwatzschwatz, das ist entschieden zu wenig, die enorme Unwucht zwischen der dürftigen Rahmenhandlung, dem müde fantastischen Pfingstwunder-Manöver, und dem eigentlichen Inhalt, Dantes Werk in Geschichte und Gegenwart, auszubalancieren.

Das nämlich ist das eigentliche Wunder dieses rätselhaft verunglückten Buches: dass alles ausbleibt, was es retten könnte. Für den Leser freilich ein blaues Wunder. Zunehmend fassungslos verfolgt man der Verwandlung eines Romans in ein Referat, das in etwa den frei schwadronierten Stand der Dante-Forschung wiedergibt. Nichts, was sich nicht auch in einer gut kommentierten Werk-Ausgabe wiederfände. Dafür viele halbgare Gedankensplitter, die der Autorin bei ihrer fleißigen Lektüre zugefallen sein mögen: wenn sie sich genüsslich ausmalt, wo die Nazi-Schlächter in der Hölle einzuquartieren wären, wenn sie zeitgenössische Parallelen zieht, oder sub specie aeternitatis darüber sinniert, was bleibt und jede Wette eingeht, „dass die lächerlichen Blasebalgobjekte von Jeff Koons schon bald auf die Mülldeponien wandern, während sich die goldrauschende Verkündigung von Fra Angelico noch etliche hundert Jahre wird halten können.“ Stoff für Reden, Vorträge, Essays, nichts, was einem die Flämmchen pfingstlicher Erleuchtung aufsetzen würde.

Hinter Pappkameraden knistert das Papier

Das aber scheint das pädagogische Ziel der Autorin gewesen zu sein: Das Stimmengewirr zu lichten, gewissermaßen eine indirekte Übersetzung von Dantes sperrigem Werks zu liefern. Doch die 33 Experten, die sie dafür aufbietet, sind ein ästhetisches Himmelfahrtskommando. In drei mal 33 Gesänge und einen Prolog hat Dante seine Jenseitswelten eingeteilt. Die 33 Gelehrtenporträts, die der 34. im Bunde, Lewitscharoffs Erzähler, abklappert, würden selbst dann jeden dramaturgischen Rahmen sprengen, wenn sie weniger schießbudenartig aufgepeppt worden wären. Es sind Pappkameraden – auch wenn sich unter ihnen real existierende Exemplare finden, knistert hinter ihren bunten Physiognomien graues Papier.

Hin und wieder blitzen echte Bilder durch den trüben Bildungsdunst des Romans. Mit realen Erfahrungen hat Lewitscharoff ihren Protagonisten belehnt: Erinnerungen an eine bescheidene Dreizimmerwohnung in Stuttgart-Sillenbuch, an eine beengte Kindheitswelt. Einst hat die Autorin dieser Herkunfts-Hölle beglückende Romane abgerungen. Schmerzlich denkt man nun daran zurück. Um mit Dante zu reden: „Nessun maggior dolore // che ricordarsi del tempo felice // ne la miseria“ – kein größerer Schmerz, als sich im Unglück an glückliche Zeiten zu erinnern.