Susanne Gaensheimer im Dialog mit StN-Titelautor Nikolai B. Forstbauer Foto: Steffen Schmid

Seit 2009 leitet Susanne Gaensheimer das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt. 100 Leserinnen und Leser erlebten die zweimalige Kommissarin für den deutschen Biennale-Pavillon in der Gesprächsreihe „Über Kunst“ der „Stuttgarter Nachrichten“ in der Galerie Parrotta in Stuttgart.

Stuttgart - „Die Kunst“, sagt Susanne Gaensheimer im Gespräch mit Nikolai B. Forstbauer, Titelautor unserer Zeitung, „kann vor allem zwei Dinge: Sie kann einen Affektionsraum schaffen, und sie kann auf diese Weise Verluste kompensieren.“

Was der Gesellschaft gegenwärtig verloren geht, wofür schon in der Schule keine Zeit mehr bleibt, das Nachdenken, Reflektieren bedeutsamer Themen - das, sagt Gaensheimer, könne in der Kunst wiedergefunden werden. Das Museum ist für diese Direktorin alles andere als ein Ort der Vergangenheit. „Die Gegenwartskunst“, sagt sie, „sollte nicht die Funktion erfüllen, Prozesse, die einmal stattgefunden haben, wieder aufleben zu lassen. Das wäre ja eine rückwärtsgewandte Dynamik.“

Die Aufgabe, die Gaensheimer der Kunst zuschreibt, besteht darin, auf die Gegenwart zu blicken, zu zeigen und zu analysieren, was uns umgibt. Und so, wie die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, kann sie auch in die Kunst der Gegenwart hineinspielen: „Die Kunst kann die Verluste, die wir erleiden, nicht ungeschehen machen. Aber sie kann eine Sprache suchen, die diese Lücken füllt.“

Kunst muss umfassend werden

Deshalb muss die Kunst für Susanne Gaensheimer ihre eigenen Grenzen überschreiten, umfassend, sinnlich werden. „Heute ist es nicht nur das Sehen, um das es in der Kunst geht“, sagt sie. „Die Kunst der Gegenwart ist sehr frei angelegt; sie spricht alle Wahrnehmungsebenen an und hat deshalb auch eine sehr starke sinnliche Komponente.“ Darin unterscheide sie sich von der Literatur und der wissenschaftlichen Analyse: „Kunst ist eben Kunst. Sie hat immer etwas mit Ästhetik zu tun.“

Ein Beispiel sind für Susanne Gaensheimer die choreografischen Objekte von William Forsythe: Choreografien, die zu Rauminstallationen werden, den Betrachter mit einbeziehen, ihn körperlich und emotional zugleich bewegen. Ein weiteres Beispiel sinnlicher Entgrenzung in der Kunst sieht sie in der Arbeit von Laure Prouvost, die das MMK derzeit in der ersten umfassenden deutschen Einzelausstellung zeigt - „Prouvost stellt nicht nur Objekte aus, sie verwandelt einen ganzen Raum.“

Die Geschichte des entgrenzten Kunstbegriffs beginnt indes nicht in unseren Tagen. Sie reicht zurück bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, „jenem Moment“, so Gaensheimer, „an dem performative Elemente zuerst Aufnahme in die Kunst fanden. Traditionelle Formen wie die Malerei oder Fotografie hält Gaensheimer deshalb längst nicht für überholt: „Auch diese können den Betrachter auf vielen Ebenen ansprechen“, sagt sie.

Kunst kann etwas klar machen

Man spürt fast, wie sie in ihren Antworten Anlauf nimmt, einen Gedanken entwickelt. „Heute“, sagt Gaensheimer dann weiter, „können wir das volle Potenzial der Kunst ausstellen. Und wenn die Kunst sich auf die Zeit bezieht, in der wir leben, kann sie uns etwas klar machen, sie kann etwas zuspitzen, mit einem Blick nach vorne, einer gewissen Radikalität. Sie kann ein Spiegel unseres Lebens werden, unserer Gegenwart, weltweit, und uns eine Möglichkeit bieten, nachzudenken, ins Gespräch zu kommen, neue Gedanken zu formulieren.“ Wenn Kunst dies nicht im Sinne eines kommerziellen oder politischen Interesses tut, dann, sagt Susanne Gaensheimer, sei sie vielleicht der letzte freie, öffentliche, gedankliche Raum. „Und deshalb ist Kunst elementar.“

Als Raum der freien Gedanken war die Kunst zugleich immer auch abhängig von finanziellen Zuwendungen. „Nur ein privater Sammler ist unabhängig und kann machen, was er will“, sagt Gaensheimer. „Aber wir sind auch immer von der öffentlichen Hand abhängig.“ Dass ein Sponsor aus dem privatwirtschaftlichen Bereich sich in inhaltliche Belange der Museumsarbeit eingemischt hätte, habe sie jedoch noch nie erlebt.

Sponsoren aus diesem Bereich besitzt das MMK einige. Gaensheimer korrigiert leise, aber bestimmt: „Wir sprechen bewusst von Partnern.“ Diese ermöglichten denn auch den bisher größten Entwicklungsschritt des Museums für Moderne Kunst – das Einrichten einer 2000 Quadratmeter großen Dependance im 2014 eröffneten und an der Nahtstelle zwischen Banken- und Bahnhofsviertel gelegenen Büro- und Wohnhochhaus Taunusturm. Vor allem der Immobilienentwickler Tishman Speyer selbst ermöglichte das Projekt MMK2. Über 15 Jahre hinweg kann das Museum ein Geschoss des Taunusturmes miet- und nebenkostenfrei nutzen und verfügt dabei über einen eigenen Zugang mit Museumsshop. Weitere Partner wie der Unternehmer Stefan Quandt decken die laufenden Kosten. Dank guter Kontakte zu Künstlern und Galerien konnte das MMK zudem eine große und profilierte Sammlung der Gegenwartskunst aufbauen, ohne dabei über einen eigenen Ankaufsetat zu verfügen. „Er ist wirklich nicht sehr groß“, sagt Susanne Gaensheimer, lässt eine kleine Pause, lacht und ergänzt: „Es sind null Euro“.

Museen müssen sich der Markt-Dynamik entziehen

Künstler, Galerien und Sponsoren sieht Susanne Gaensheimer gleichermaßen als Partner ihres Museums an, investiert viel Zeit in den Aufbau langfristiger Beziehungen. „Im engen Dialog versuchen wir, Lösungen zu finden“, sagt sie. „Wir können die Konditionen des normalen Marktes nicht erfüllen; wir bewegen uns außerhalb dieser Dynamik.“

Dieser Weg ist für Susanne Gaensheimer „schlicht notwendig“. „Ich glaube nicht“, sagt sie mit Blick auf die öffentlichen Etats, „dass es für die Museen irgendwann wieder mehr Geld geben wird – denn wo sollte es herkommen?“ Ein grundsätzliches Umdenken in der Kulturpolitik hielte sie für notwendig, sieht es aber nirgendwo. „Man müsste die Rahmenbedingungen der Kulturförderung ändern, auf staatlicher Ebene. Zum Beispiel bei der Besteuerung von Schenkungen. Das wäre sehr wichtig.“

Soziale Netzwerke erschließen neue Besuchergruppen

Noch bis zum 2. Oktober war auch in der Region Stuttgart Susanne Gaensheimers Blick auf die Kunst zu erleben. „Food-Ökologien des Alltags“ heißt ihr Konzept für die 13. Triennale Kleinplastik in Fellbach. Und wie geht es für Susanne Gaensheimer, 2011 und 2013 Kommissarin für den deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig, weiter? „Die Akquise der großen Summen für das Museum ist beendet“, sagt sie. „Ich genieße es im Augenblick sehr, mich wieder stärker auf die inhaltliche Dimension meiner Arbeit zu konzentrieren.“ Die Rolle des Museums habe sich grundlegend verändert. „Die einstmals elitäre Gegenwartskunst wurde populär“, sagt sie, „die Gesellschaft wandelte sich, digitale Medien spielen eine immer größere Rolle“. Eine Folgerung? „Museen müssen sich heute als sehr offene Räume zeigen“. Dazu gehöre es auch, über soziale Netzwerke ganz neue Besuchergruppen zu erschließen.

Susanne Gaensheimer denkt über das Museum als Ort in der Öffentlichkeit ebenso nach wie über den Ort des Museums in der Öffentlichkeit, über die Sprache eines Museums – und darüber, wie Globalisierung im Museum abgebildet werden kann. „All dies“, sagt sie, „wird sich in künftigen Ausstellungen niederschlagen“.