Ministerpräsident Kretschmann hat keine Bange beim Blick in die Zukunft. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Noch nie konkurrierten so viele Parteien um Wählerstimmen wie am Superwahlsonntag am 26. Mai. Experten befürchten die Zunahme einer Politik der Sonderinteressen. Ministerpräsident Kretschmann wiegelt ab.

Stuttgart - Drei Wochen vor dem Superwahlsonntag am 26. Mai kritisieren führende Kommunalbeamte ebenso wie Politikwissenschaftler und Historiker die zunehmende Vielgestaltigkeit in den Parlamenten. Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) registriert, dass aufgrund einer Umstellung des Verfahrens für die Sitzverteilung mehr Stadträte von kleinen Listen in die Gemeinderäte ziehen. „Gerade in den großen Städten wird durch die Zersplitterung die Arbeitsfähigkeit der kommunalen Gremien auf die Probe gestellt“, sagte Kretschmann unserer Zeitung. Trotzdem hält er das System für gerechtfertigt. Die Vielzahl an Parteien und Gruppierungen habe ganz verschiedene Sichtweisen und Ideen auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Am 26. Mai entscheiden die Bürgerinnen und Bürger sowohl über die Zusammensetzung des Europaparlaments als auch der Regionalversammlung, der Kreistage sowie der Gemeinderäte in den 1101 Kommunen des Landes Baden-Württemberg. Dabei konkurrieren allein in Stuttgart 20 verschiedene Gruppierungen auf eigenen Listen. „Damit wurde der bisherige Rekord von 17 Wahlvorschlägen aus dem Jahr 1999 überboten“, sagte der Leiter des Statistischen Amts, Thomas Schwarz.

Die Suche nach Wahlhelfern ist schwierig

In Stuttgart kämpfen 913 Bewerber um 60 Plätze im Gemeinderat. Entsprechend umfangreich sind die Wahlunterlagen. Dasselbe gilt für den Stimmzettel zur Europawahl, der 40 Parteien umfasst. Diese Diversifizierung sorge bereits am Wahltag für ganz praktische Probleme, sagte Wahlleiter Martin Schairer: „Die Auszählung der Stimmen ist so komplex, dass wir große Schwierigkeiten haben, genügend Wahlhelfer zu finden.“ Zudem werde es in den Parlamenten wie auch im Gemeinderat immer schwieriger, qualifizierte Mehrheiten zu finden.

Auch der renommierte Wahlforscher Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim sieht „diese Zersplitterung“, die in Stuttgart dazu führte, dass ein Vertreter der Studentischen Liste bei der Wahl 2014 bereits mit einem Stimmenanteil von 1,2 Prozent in den Gemeinderat einzog. Zwar könnten viele Gruppierungen die speziellen Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler vertreten, meint Brettschneider. Wichtig sei jedoch, „dass das Gemeinwohl vor lauter Partikularinteressen nicht aus dem Blick gerät“.

Auftakt zu einer großen Wahlserie unserer Zeitung

Der Historiker Reinhold Weber hält die Diversifizierung für einen generellen Trend: „Unsere Gesellschaft teilt sich in immer kleinere Milieus mit einzelnen Sonderinteressen auf.“ Man könne „von Vorgartenpolitik sprechen, während der Blick für das Größere an Bedeutung verliert“, sagte der Experte der Landeszentrale für politische Bildung. Das könne zur Vertretung extremer Positionen von rechts oder links führen. Ein großer Gemeinderat wie der in Stuttgart müsse das aber aushalten, sagte Weber zum Auftakt einer großen Serie unserer Zeitung.

Von heute an analysieren die Experten unserer Redaktion die wichtigsten Fakten zu den Wahlen. Den Auftakt zur Wahlserie macht die Migrationspolitik. Unsere Autoren beleuchten ebenso die konkrete Situation in Stuttgart wie die neue Großlage in Europa und die Positionen der Parteien.

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