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Im neunten Film aus dem X-Men-Kosmos sind die Sinnkrisen der Mutanten die vertrauten. Bryan Singer schlachtet eingeführte Motive aus. Wie weit kommt er diesmal mit den alten Fragen und Antworten?

Stuttgart - „Man tut, was man kann“, sagt der zum untätigen Herrschen verdammte Hamm in Jan Bosses Inszenierung von Samuel Becketts Bühnenstück „Endspiel“, das an Pfingsten im Stuttgarter Schauspielhaus zu sehen war. „Das ist es ja gerade!“, antwortet der zum Dienen verdammte Clov. Sie sind in ihren Rollen gefangen, Ulrich Matthes und Wolfram Koch erspielen dem dadaistischen Ringen um Erlösung universelle Bedeutung.

Was man tun kann, darum geht es auch in der mit großen Stars verfilmten Frühgeschichte der Marvel-Comic-Reihe „X-Men“: Mutanten mit Superkräften wollen da der gesellschaftlichen Ächtung entkommen, die alle trifft, die anders sind. Im ersten Teil (2011) trotzten sie Kevin Bacon als Energiemonster im Jahr 1962, im zweiten Teil (2014) Peter Dinklage („Game Of Thrones“) als skrupellosem Industriellen, der im Jahr 1973 aus Mutanten-DNA Superroboter konstruiert. In Teil drei nun wiedererwacht 1983 ein antiker Mutant und bringt die Welt ins Wanken. Doch die Mystik des alten Ägypten verfängt nicht, so sehr sich Oscar Isaac („Ex Machina“) auch müht: überschminkt und überkostümiert bleibt dieser Pharao namens Apocalypse, dem das Drehbuch als Motiv nur die Vernichtung der gescheiterten Menschheit mitgibt, ein Abziehbild, unfreiwillig komisch in pathetischem Gedonner.

Hübsche Effektschlacht

Nahezu omnipotent rekrutiert er diskriminierte Mutanten wie die junge Wetterhexe Storm und zeigt ihnen das Ausmaß ihrer Fähigkeiten. Die humanistischen Mutanten wollen diese dunkle Seite der Macht stoppen, und ein jeder tut nun, was er kann. Giganten kollidieren, Wolkenkratzer, Brücken und Hafenanlagen kollabieren. Die 3-D-Effekt-Schlacht ist hübsch anzuschauen bis hin zu netten Details wie einer pinkfarbenen Plasma-Peitsche und goldenen ägyptischen Lebenslinien, die Platinenmustern ähneln.

Jennifer Lawrence als blau geschuppte Gestaltwandlerin Mystique führt alle zusammen, leidet aber weiter daran, ein hässliches Entlein zu sein und den Schwan nur als Illusion vortäuschen zu können. James McAvoy als Professor X alias Charles Xavier reflektiert einmal mehr die Verantwortung, die mit der Fähigkeit einhergeht, in fremde Hirne lauschen, sie manipulieren zu können – er erlebt im Pharaonenkopf sein blaues Wunder. Michael Fassbender als zutiefst gespaltener Magneto, der mit allem Metallischen Urgewalten entfesseln kann, pflegt seine Neigung zu dramatischen Alleingängen. Und auch Hugh Jackman als unkaputtbarer Messerkrallen-Träger Wolverine hat einen kurzen, entscheidenden Einsatz. Den Szenenpreis aber bekommt wie in Teil zwei Evan Peters als Quicksilver. Er kann sich so schnell bewegen, dass ihm die Welt in Superzeitlupe erscheint, was ihn befähigt, Kinder aus einem Haus zu retten, während dieses schon explodiert.

Ausschlachten der Motive

Unter den Neuzugängen sind Kodi Smit-McPhee als Teufelchen Nightcrawler, ein fleischgewordener Beamer, und Tye Sheridan als Cyclops mit tödlichem Feuerblick. Entwicklungspotenzial aber zeigt vor allem Sophie Turner: Als Sansa Stark in „Game Of Thrones“ in eine weibliche Opferrolle gezwungen, entfaltet sie als Telekinetikerin Jean Grey erstaunliches Charisma und meistert mit Bravour spielentscheidende Szenen.

Dagegen steht manches Fragezeichen. Bryan Singer scheint zu glauben, eingeführte Motive immer weiter ausschlachten zu müssen. So zerlegt Magneto im Furor die Gedenkstätte in Auschwitz, wo einst seine Eltern umkamen. Dass ganze Städte verwüstet wurden, zuvorderst Kairo, ist später kein Thema mehr, wenn alle ihr Happy End genießen.

Gefangen in alten Antworten

Vor allem aber wirken die Sinnkrisen der Mutanten wie schon einmal gesehen – gerade im Vergleich zu den überraschenden Fronten im Superhelden-Bruderkrieg der Avengers, den diese im aktuellen dritten „Captain America“-Film ausfechten, mit viel mehr Tiefe im Plot, in den Charakteren, auf der Metaebene.

„Ah, die alten Fragen, die alten Antworten!“, schwärmt Hamm alias Ulrich Matthes in „Endspiel“. Die Ironie trieft aus jeder Silbe bei diesem Satz Becketts, und das ist der Unterschied: Die X-Men sind gänzlich in alten Fragen, alten Antworten gefangen – aber ganz im Ernst.