Auf ein Weckle mit Wolfgang Thierse: Am Prenzlauer Berg wirbt der SPD-Chef des Landes um die Stimmen der Exil-Schwaben – und Wolfgang Thierse gibt den Schwabenfreund. Foto: dpa

Nils Schmid wirbt am Kollwitzplatz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg um die Briefwahl-Stimmen der „Prenzelschwaben – zusammen mit Wolfgang Thierse.

Berlin/Stuttgart - Es regnet ein bisschen und es ist grau. Überall Pfützen und manchmal bläst der Wind ins Gesicht. Nur wer der SPD ausgesprochen übel will, muss jetzt daran denken, dass das düstere Hauptstadtwetter doch ein prächtiges Symbol für die Lage der Südwest-SPD im schwierigen Landtagswahlkampf ist.

Aber gut geht es ihr ja wirklich nicht. Da kämpft man um jede Stimme. Ganz gleich, wo sie sich versteckt hat – und sei es mitten im preußischen Herzen. Eine metropole Wandersage behauptet seit langem, dass der Prenzlauer Berg, im alten Osten der Stadt, zu einer schwäbischen Enklave geworden sei: längst fest in der Hand Putzeimerschwenkender Reinlichkeitsfanatiker mit unverständlichem Akzent und von Daimler fahrenden Bestverdienern mit dem Aufklebern eines Vereines für Bewegungsspiele am blankgewienerten Heck, dessen Punktekonto in etwa so prall gefüllt ist wie die klamme Berliner Landeskasse. Kein Restaurant ohne Maultaschen und jede Kneipe führt Rothaus.

Das ist zwar Unfug, aber auch den beginnt man zu glauben, wenn er oft genug aufgetischt wird. Auch manch ost-sozialisierter Ureinwohner wird verwirrt angesichts der rasanten Veränderung des Bezirks, den man je nach Sicht einst als wild romantisch oder doch sanierungsgeneigt einstufen konnte, und der heute zur Heimstatt eines politisch superkorrekten, ökobesessenen Milieus geworden ist, irgendwo zwischen Kreativelite und Schicki-Micki-Nerds: kinderreich, dröhnend tolerant, individuell und mit laktosefreiem Latte macchiato als Treibstoff.

Thierse wohnt seit 40 Jahren am Prenzlauer Berg

Wolfgang Thierse wohnt hier. Thierse? Da war doch was. Richtig. Die SPD-Ikone, Ex-Bundestagspräsident, wohnt seit 40 Jahren ununterbrochen im Kiez. Inzwischen sind 90 Prozent seiner Nachbarn nach 1990 zugezogen. Einmal ist ihm in einen Interview der Kragen geplatzt. Wörtlich hatte er gesagt: „Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken. Da sage ich: In Berlin sagt man Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen. Genau das gleiche mit Pflaumendatschi. Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen.“ Dann noch eine nette, fiese Breitseite hinterher: „Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind. Und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche.“

Dann brach der Sturm los. Der Schwabe zeigte sich als begabter Übelnehmer. Ausladungen, Beschimpfungen, böse Kommentare. Thierse ist kein beliebter Mann mehr im Südwesten.

Insofern hat es seinen hohen ironischen Reiz, wenn Nils Schmid, der Chef der Südwest-SPD am Samstag nach Berlin kommt, um – mit Thierse! – gemeinsam um die Briefwahlstimmen der Prenzelschwaben zu werben. Mitten am Kollwitzplatz, dort wo gerade der – natürlich ökologische – Wochenmarkt stattfindet, pflanzen die beiden ein Plakat auf. Überlebensgroß Nils Schmid. Dazu der Schriftzug: „Schwaben: Zu Hause vermissen wir Eure Stimme.“

Der Berliner übt „tätige Reue“

Es sind zwar nicht die einzigen Stimmen, die von der SPD gerade vermisst werden. Aber Schmid hat Gefallen an dem doch Aufsehen erregenden Gag. Vorher gibt es Weckle in der „Kulturbrauerei“. Die Genossen sind weitgehend unter sich. Und tatsächlich finden sich viele Exilschwaben ein. Die Chance für Thierse, Entspannungspolitik zu betreiben. Die zwei Sätze seien für ihn „die erfolgreichsten Äußerungen in 24 Jahren Politik“ gewesen. Da könne man schon „Anfälle an Trübsinn“ bekommen. Vor allem aber hat er mails bekommen. Rund 1000. In der Hälfte davon habe der Satz gestanden, was er sich erdreiste, „wo doch die Schwaben mit ihrem Geld Berlin erst finanzieren“. Da könnte er sich glatt wieder aufregen. Tut er aber nicht. Im Gegenteil. „Tätige Reue“ habe er geübt. Er war im Südwesten. Ganz tief. Bei der allemannischen Fasnet. Thierse: „Was die über Euch Schwaben gesagt haben – also ich wäre gelyncht worden.“

Die Baadener seien eben „ironiefester“, sagt da Nils Schmid. Immerhin habe Thierse fraglos seinen Bekanntheitsgrad gesteigert. Das hat Schmid jetzt auch. Am Kollwitzplatz kennt man ihn jetzt. Und er kennt den Kollwitz-Platz. Das hat sich Wolfgang Thierse nicht nehmen lassen: Als der Rummel vorbei, das letzte Weckle gegessen und das letzte Foto geschossen ist, nimmt Thierse seinen schwäbischen Besucher mit zum Käthe-Kollwitz-Denkmal.

Eigentlich ist es doch ganz sauber hier. Nicht so wie in Schwaben natürlich. Das erzählt Thierse auch noch. Als er frisch aus der DDR zum ersten Mal in Schwaben war, habe er sich die Augen gerieben: „Die Bürgersteige – wie geleckt!“