Auf Einladung von Stuttgarter Zeitung, Roland Berger und der L-Bank hat eine hochkarätige Runde aus Politik und Wirtschaft über die Schwierigkeiten diskutiert, die den Arbeitsmarkt in immer größerem Maße belasten.
Arbeitskräfte seien so knapp wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr, stellt das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) fest. „Als Arbeitnehmer kann man das nur gut finden – wer möchte keine größere Auswahl und Sicherheit bei der Jobsuche“, sagte Joachim Dorfs, Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, zum Auftakt einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion am Mittwochabend in der L-Bank. „Gesamtwirtschaftlich ist es zweifellos ein Problem.“
Rund 270 geladene Gäste sowie Leserinnen und Leser der Stuttgarter Zeitung verfolgten die Veranstaltung von Stuttgarter Zeitung, L-Bank und Unternehmensberatung Roland Berger in der Reihe Zukunft der Region. Sie hörten, dass sich Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne) vor allem um den starken Rückgang bei den Studierendenzahlen gerade in den sogenannten Mint-Fächern sorgt. Bei Ingenieurwissenschaften wie der Elektrotechnik gebe es regelrechte Einbrüche, sagte sie. Ein Grund sei, dass mehr Abiturienten mittlerweile eine Ausbildung beginnen statt zu studieren.
Gefordert sei nun ein ganzes Paket von Maßnahmen. „Bestimmte Studiengänge müssen wir anders anbieten.“ Manchmal bringe schon die Umbenennung eine Veränderung. Mit den Hochschulen sei man in intensiven Gesprächen über neue Programme. Dazu gehört – wie Olschowski verriet – vermutlich auch die Abschaffung der Studiengebühren für junge Menschen aus Drittstaaten, die gerade geprüft werde. Weil bisher dadurch Einnahmen in Höhe von 30 Millionen Euro pro Jahr erzielt werden, sei das „im Moment noch Verhandlungssache“ – aber man sei in gutem Kontakt, meinte sie.
Wo denn die Arbeitskräfte alle hin seien, wollte Dorfs wissen. Der Chef der Regionaldirektion in der Bundesagentur für Arbeit (BA), Christian Rauch, entgegnete launig: „Die erste Antwort lautet: in den Ruhestand. Die zweite Antwort lautet: in den Vorruhestand.“ Seit 2012 schon sei der Abfluss aus dem Arbeitsmarkt stärker als der Zufluss. Als großen Makel beschreibt er, dass schon viel Humankapital verschwendet worden sei, weil jährlich mindestens zehn Prozent eines Schulentlassjahrgangs keinen Berufsabschluss hätten – auch wegen des exzellenten Arbeitsmarktes, auf dem sich auch gutes Geld verdienen lasse. „Die Fachkräfte, die wir damals nicht ausgebildet haben, fehlen uns heute“, konstatierte Rauch.
„Suchen Menschen, die für eine Aufgabe brennen“
Und wie gewinnt man heute neue Kräfte beziehungsweise hält die Leute bei der Stange, die da sind? „Wir suchen Menschen, die für eine Aufgabe brennen sowie veränderungsfähig und -willig sind“, sagt Christoph Werner, Chef der Drogeriemarktkette dm. Im Einzelhandel sei der Wettbewerb um das Personal jedoch keine ganz neue Situation – diese Branche habe für die Bewerber auch vorher nicht an erster Stelle gestanden. „Da mussten wir uns schon immer Gedanken machen.“
Der Vorsitzende der Geschäftsführung erlebt angesichts der neuen Ansprüche an den Arbeitgeber auch „Schattenseiten“: Da stoße bei einigen Bewerbern schon das frühe Aufstehen auf Ablehnung. Umgekehrt engagierten sich gerade junge Leute extrem etwa in den sozialen Medien. Erstaunlich sei es, was die auf die Beine stellten.
Ohnehin bietet die Digitalisierung aus seiner Sicht die Möglichkeit, Menschen dort einzusetzen, wo sie gebraucht würden. Die Automatisierung werde dazu führen, „dass die Aufgaben den Menschen zugewandt sind und interessanter werden“, glaubt Werner, der über seinen Führungsstil verriet: Bei dm würden möglichst viele Entscheidungen in die Teams verlagert. Es sei die falsche Philosophie zu denken: „Das Personal gehört uns – darüber kann man verfügen.“ Vielmehr müsse der Arbeitgeber überlegen: „Was müssen wir einbringen, damit die Leute ihre Lebensarbeitszeit bei uns verbringen?“
Mehr Wertschätzung für die Mitarbeitenden
Die neue Personalchefin – genauer Global HR Director – der Lapp-Gruppe, Wilma Kauke, unterstrich die Notwendigkeit der Wertschätzung für die Mitarbeitenden. Diese müssten das Gefühl haben: „Die tun was, damit ich mein Leben gut organisiert kriege.“ Für die Arbeitgeber sei die Situation des Personalmangels eine Chance, besser und kreativer zu werden.
Dies zielt vor allem auf junge Beschäftigte, für die Nachhaltigkeit eine riesige Rolle spiele. Sie seien durchaus bereit zur Verantwortung. „Wenn sie sich für die Themen interessieren, dann treiben sie diese voran und fragen nicht, was zu tun ist.“ Der Arbeitgeber könne darauf eingehen, indem er neue Arbeitsformen finde. Die Leistungsbereitschaft sei da – sie drücke sich nur anders aus, als man dies aus der Vergangenheit kenne.
Die Lapp-Gruppe sei zu mehr als einem Drittel in Deutschland vertreten – „und wir würden gerne bleiben“, sagte Kauke, verwies aber auch auch auf die stark steigenden Lohnkosten, die die Wettbewerbsfähigkeit gefährdeten. „Irgendwann wird es schwierig – wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht selbst ein Bein stellen.“
„Zuwanderungshandeln war lange auf Abwehr ausgerichtet“
Munter wurde es beim Thema Fachkräftezuwanderung: Mindestens 400 000 Arbeitskräfte aus Drittstaaten werden pro Jahr auf dem deutschen Arbeitsmarkt benötigt, stellt die Bundesagentur für Arbeit fest. Dies sind inklusive der Angehörigen jährlich 1,5 Millionen Menschen mehr. Rauch nannte Faktoren, die die Erreichung dieses Ziels erschweren: die gleichzeitigen Abwanderung der ausländischen Fachkräfte etwa, die nur für wenige Jahre kommen. Außerdem würden vielfach ihre Qualifikationen nicht anerkannt. Und Deutsch sei nun mal keine Weltsprache.
Generell sei „das Zuwanderungsrecht und Zuwanderungshandeln bis 2015 auf Abwehr ausgerichtet gewesen“, meinte der Regionalchef der BA. Auch danach sei noch ausländisches gegen inländisches Potenzial ausgespielt worden. Selbst heute sei der deutsche „Auftritt im Ausland“ noch nicht auf Zuwanderung eingestellt. Unternehmen, die dort noch nicht vertreten seien, hätten daher ein Problem. „Da müssen wir den Schalter umlegen und sagen: Wir sind ein Einwanderungsland.“
DM-Chef Werner warnte vor der „Illusion“, mit der Migration ließen sich all die Probleme auffangen. Da müsse man sich „ehrlich machen“: Junge Frauen etwa hätten ein „Riesenpotenzial“, bekämen aber keine Kita-Plätze. Auch das Wissensniveau an den Schulen habe sich nicht verbessert. „Wir sollten keine Ablenkungsmanöver fahren, sondern müssen an die dicken Bretter ran und die Missstände anpacken.“
Ein weiteres Beispiel: Die Politik schaffe Regelungen wie das Lieferkettengesetz, „die einen Wahnsinns-Rattenschwanz an Bürokratie verursachen“. Um grundsätzlich was zu verändern, müssten Gesetze mit einem „Verfallsdatum“ versehen werden, schlug Werner vor. Außerdem ziehe der Staat mit seinem großen Personalbedarf die Arbeitskräfte ab. „Warum brauchen die so viele?“, fragte er zur Erheiterung des Publikums. Die Behörden würden doch immer größer.
Die Wissenschaftsministerin blieb gelassen: „Bürokratisierung ist das große Schlagwort“, konterte Olschowski. „Damit lösen Sie das Problem aber nicht.“ Außerdem nehme der Staat den Unternehmen nicht die Arbeitskräfte weg – „wir zahlen viel schlechter als die Wirtschaft“, setzte sie ein weiteres Bonmot an einem unterhaltsamen Abend.