Die Anwohner sind von der Ruhe durch den Lockdown nicht besonders angetan: Denn der Lockdown verlangsamt auch die Vereinigung von Bohnen- und Leonhardsviertel zu einer neuen Mitte Stuttgarts.
Stuttgart - Im Brunnenwirt ist der Schweinebauch scharf und die Dame am Grill in Wallung. „Überhaupt nichts los, einzige Katastrophe, abends lohnt es sich gar nicht mehr aufzumachen“, sagt sie und gibt dem Klassiker unter Stuttgarts Stehimbiss-Gerichten noch einmal ordentlich Pfeffer mit auf den Weg unter der Plexiglasscheibe hindurch zu einem einsamen Kunden. Weil Sexbars, Kiezkneipen, Restaurants und Cocktailläden im Leonhardsviertel ihren Indoor-Betrieb coronabedingt von Herbst an zum zweiten Mal einstellen mussten, ist auch im bekanntesten Nachtschwärmer-Imbiss der Stadt alles auf Sparflamme gedreht.
Viel los ist zur Mittagszeit nur vor einem Seiteneingang der Leonhardskirche, wo Essen an Bedürftige ausgegeben wird. Auf der Tageskarte der Vesperkirche: Bifteki mit Tomatendip oder wahlweise Grillkäse mit Gemüse. An der Ecke steht eine junge Frau, die für diese Jahreszeit zu wenig an hat und für die Uhrzeit zu stark geschminkt ist. Wieder kein Kunde weit und breit. Stillstand im Ausgehviertel. Jetzt gibt es auch hier eine Nachtruhe. Ein ganzes Quartier kann ausruhen und richtig durchatmen. Doch die Begeisterung darüber hält sich auch bei den Anwohnern in Grenzen.
Ganz bewusste Entscheidung für diesen Wohnort
Da wäre zum Beispiel Jim Zimmermann. Der 72 Jahre alte Fotograf lebt mit seiner Frau seit 2006 im Viertel, nach einem 300-Meter-Umzug vor ein paar Jahren mittlerweile in der Hauptstätter Straße zwischen Brunnenwirt und Wilhelmsplatz. „Wir wohnen hier doch ganz bewusst, wenn wir es ruhig und beschaulich haben wollten, wären wir doch schon lange am Stadtrand“, sagt der überzeugte Innenstadtbewohner: „Natürlich nervt es, wenn du vom Selfie-Gekreische eines Junggesellinnen-Abschieds aus dem Schlaf gerissen wirst, aber das ist mir lieber als der Zustand jetzt.“ In diesen Tagen wird besonders deutlich, dass das Leonhardsviertel eben weit mehr ist als ein großer brachialer Amüsierbetrieb, dafür stehen Weinlokale, Gastro-Besonderheiten wie das Yafa, Jazzclubs oder Läden des normalen täglichen Lebens. Und dieses normale Leben ist nun auch in der Warteschleife, wie auch der quartieransässige Kulturbetrieb.
So müssen die „Theatertage in Klein Paris“ mit Aufführungen in verschiedenen Bars und Clubs pausieren. Stattdessen gibt es jetzt eine quartierweite Fotoausstellung mit Arbeiten von Lutz Schelhorn, die in vielen Schaufenstern des Viertels zu sehen sind. Was auch etwas mit den Stuttgartern Hells Angels zu tun hat, dessen Chef Schelhorn ist und die ihr in Eigenarbeit renoviertes Clubhaus im Leonhardsviertel haben. „Auch wenn ich ganz prinzipiell Probleme mit Rockerclubs habe, kann ich über die Hells Angels im Viertel nichts Schlechtes sagen“, meint Veronika Kienzle. Sie seien, so die Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte, bei jedem Runden Tisch zu Quartiersfragen sehr konstruktiv dabei.
So wächst rund um das Gustav-Siegle-Haus offenbar gerade zusammen, was auf den ersten Blick gar nicht zusammengehört. Und deshalb will die OB-Kandidatin der Grünen, die vor dem zweiten Wahlgang im November zurückgezogen hatte, das Sexgeschäft auch gar nicht komplett verbannen. Aber: „Was illegal ist, muss konsequent unterbunden werden“, sagt Veronika Kienzle und meint damit Zwangs- und Straßenprostitution. Aber auch in dieser Hinsicht habe sich in den letzten Jahren vieles zum Guten verändert, heißt es von Anwohnerseite. Mithilfe von Beratungsstellen vor Ort und Sozialarbeit auf der Straße.
Um die Umgebung lebenswerter zu machen, sieht Veronika Kienzle auch die Stadt in der Pflicht, öfter ihr Vorkaufsrecht bei Immobilien in Anspruch zu nehmen und das Feld nicht Spekulanten zu überlassen. Bezahlbare Mietwohnungen anstatt Terminwohnungen so ihr Credo. Es gibt aber auch Käufer, die aus Kienzles Sicht vorbildlich agieren und weist auf eine Firma hin, die das Gründerzeithaus Leonhardstraße 13 gekauft, saniert und die Wohnungen zu moderaten Preisen nicht gewerblich vermietet hat. Dies soll als Musterbeispiel für so manches renovierungsbedürftige Barockhaus im Viertel gesehen werden.
Züblin-Parkhaus wird als Sperrriegel empfunden
Die allgemein positiv bewertete dynamische Entwicklung wird gerade durch Corona und den Lockdown verlangsamt. „Es herrscht eine triste und gespenstische Stimmung. Das ganz Viertel weint“, so fasst es Mihaela Manachidis zusammen. Die Mutter zweier halbwüchsiger Kinder hat das neue Gemeinschaftsgefühl schon verinnerlicht. Sie wohnt vis-à-vis im ruhigeren Bohnenviertel sieht sich aber schon als Vertreterin eines aus beiden Gebieten zusammengeführten Stadtteils. Und der heißt Leonhardsvorstadt. Diesem Verschmelzungsprozess steht aber noch ein grober Klotz im Weg. Das Züblin-Parkhaus ist der unansehnliche Sperrriegel zwischen Bohnen- und Leonhardsviertel, dem es bald ans Gemäuer gehen soll. Der Pachtvertrag mit dem Betreiber läuft Ende 2022 aus; es wird dann einem neuen Zweck zugeführt.
An diesem Ort soll eine neue Quartiersmitte entstehen, die durch ihre Bauweise die Offenheit und Durchlässigkeit einer lebendigen Leonhardsvorstadt symbolisieren könnte. Dieser neue Mitte soll auch bei der Internationalen Bauausstellung 2027 eine zentrale Rolle spielen. Der Leonhardsvorstadt e. V., in dem sich auch Mihaela Manachidis engagiert, und das Stuttgarter Stadtplanungs- und Architekturbüro Studio Malta haben mittlerweile einen Bürgerbeteiligungsprozess in Gang gesetzt, wie dieses Zentrum aussehen soll. Auch diese Entwicklung wird durch die Pandemie gestört.
Vom Lockdown wird Heinrich Huth gleich in mehrfacher Hinsicht tangiert – als gebeutelter Barmann der Kiezkneipe Jakobstube, der darüber wohnt. Als Vorsitzender des Leonhardsvorstadt-Vereins und als SPD-Bezirksbeirat. Sein Hund E.T. erlaubt es ihm, auch noch nach 20 Uhr durchs Quartier zu gehen. „Am Anfang habe ich es sehr genossen, ein neues Gesicht des Viertels zu erleben. Aber jetzt freue ich mich darauf, an einem toleranten Ort Nachbarn und Freunde wieder in den Arm nehmen zu können.“