Auf Prothese durch Deutschland: Mehr als 5600 Kilometer ist Roland Zahn so schon gewandert. Foto: privat

Im Jahr 2006 wurde Roland Zahn sein rechtes Bein über dem Knie amputiert – sein „zweites Geburtsdatum“. Trotzdem wandert er jetzt in einer Spirale um Stuttgart. 1000 Kilometer will er so zurücklegen.

Stuttgart – - Herr Zahn, Sie sprechen auf Ihrer Internetseite von der Spezies der Einbeiner und der Zweibeiner. Ist das Galgenhumor?
Nein, das ist nur als Scherz gedacht. Wenn man eine Amputation hat, ist das nichts Schlimmes. Aber viele Menschen kommen nicht über die Amputation hinweg; begreifen nicht, dass sie immer noch schöne Dinge erleben können. Durch diese Einstellung blockiert man sich.
Wie sind Sie vom Zweibeiner zum Einbeiner geworden?
Ich bin im Juli 2005 mit einer Venenentzündung am rechten Bein in die Ambulanz gekommen. Das wurde verbunden und war viel zu eng gezogen. Ich hatte Einschnürungen, die einen Zentimeter tief waren. Dadurch hatte sich das ganze Bein entzündet und war vereitert. Das wurde operiert, und ich sollte die Wunde daheim verheilen lassen, weil im Krankenhaus mein Bett gebraucht wurde. Die Wunden sind aber immer größer geworden und haben tiefer liegendes Gewebe und Knochen angegriffen. Die Amputation nach einer Blutvergiftung am 6. Juli 2006 hat mich gerettet, danach lag ich fünf Wochen im Koma. Da hatte ich aber schon wunderschöne Träume vom Wandern.
Es war also ein Ärztefehler?
Ich habe einen Gutachter beauftragt, der gesagt hat, dass es keiner war. Da kann ich als Laie dann ja nichts mehr sagen. Ich hatte aber auch keine Lust mehr, mich mit diesen Problemen rumzuschlagen, sondern wollte in die Zukunft schauen. Das war meine erste wichtige Lektion. Außerdem hat mir mein Rollstuhl dann großen Spaß gemacht. Das war sozusagen mein Amputierten-Porsche, mit dem ich durch Stuttgart gedüst bin. Aber ich habe mich dann ein Jahr lang nicht getraut, ohne Rollstuhl auch nur zum Einkaufen zu gehen. Das war mein größtes Problem. Mein größtes Handicap war im Kopf!
Wie haben Sie dann angefangen, mit Ihrer Prothese zu laufen?
Die Idee ist von meiner Vermieterin gekommen. Die hat keine medizinischen Kenntnisse, aber dafür gesunden Menschenverstand. Sie hat es mir deutlich klargemacht: „Jetzt gehen Sie doch mal ein Stück. Sie können das doch noch!“ Das hat mir aber kein Arzt gesagt. Ich dachte wirklich, ich hätte den Rollstuhl, weil ich nicht mehr laufen kann.
Wie weit sind Sie insgesamt schon auf Ihrer Prothese gewandert?
Ungefähr 5600 Kilometer.
Sie bewegen sich mit Ihrem Handicap mehr als so mancher Zweibeiner.
Das stimmt. Mir sagen ganz viele Leute: „Ich sollte mich eigentlich mehr bewegen.“ Die wissen, dass es ihnen guttun würde. Aber dafür braucht man Disziplin und die richtige Einstellung und Gelegenheit.
Wie sind Sie auf die Aktion Bewegung hilft gekommen?
Ich habe angefangen, mit meiner ersten Prothese zu wandern. Gleichzeitig habe ich aber bei der Krankenkasse eine elektronische Prothese beantragt, weil man mit der alten das Knie nicht beugen durfte beim Laufen. Dann bin ich schon 1000 Kilometer gewandert, und die Krankenkasse hat meinen Antrag immer abgelehnt. Dagegen habe ich aber jedes Mal Widerspruch eingelegt. Das war die zweite wichtige Lehre: Dass ich mich durchsetzen muss. Damals hatte ich schon die Idee, von meiner Heimatstadt Leipzig nach Stuttgart zu laufen. Die Idee habe ich mit Dieter Jüptner entwickelt, der dann auch den Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation (bmab) gegründet hat. Der hat sofort gesagt: Daraus machen wir eine größere Aktion.
Das bedeutet?
Wir haben erst einmal einen Sponsor gebraucht. Dafür haben wir einen Hersteller von Prothesen gewinnen können. Der hat aber am Anfang nicht geglaubt, dass ich das kann. Deswegen sollte ich erst einmal drei Wochen lang Probewanderungen machen und die dokumentieren. Letztendlich haben sie dann meine große Wanderung 2011 mit 100 Euro am Tag gesponsert. Und auf meinem Weg habe ich dann in 20 Sanitätshäusern vor Amputierten Vorträge über das Wandern gehalten. Nach drei Monaten bin ich dann am fünften Jahrestag meiner Amputation in Tübingen, an der Klinik in der mein Bein abgenommen wurde, eingelaufen.
Und mit dieser Aktion wollen Sie Menschen mit Prothesen helfen?
Genau. Nach meiner ersten großen Wanderung im Jahr 2011 habe ich dem Dieter Jüptner gesagt, dass wir das weiterführen sollten. Dadurch kann ich anderen Mut machen. Deswegen bin ich dann 2012 mit vielen Umwegen von Berlin nach München gewandert. Fast 1800 Kilometer bin ich dagelaufen.
Und jetzt in einer Spirale um Stuttgart?
Da habe ich mich gefragt, wie ich noch mehr wandern könnte und trotzdem daheim schlafen kann. Deswegen laufe ich jetzt bis zum Herbst 1000 Kilometer in einer Spirale um Stuttgart – immer im Kreis war mir zu langweilig. Dadurch will ich Sponsoren für ein Kinder- und Jugendcamp des bmab gewinnen. Im Jahr 2015 soll es 50 Kindern mit diesem Handicap ermöglicht werden, eine Woche lang zusammen Sport zu treiben und sich auszutauschen. Viele von ihnen verstecken sich regelrecht. Wir wollen aber nicht, dass die etwas bezahlen müssen. Deswegen brauchen wir die Sponsoren.
Wo wandern Sie besonders gerne?
Ich gehe gerne bergauf. Und ich suche mir immer Naturwege. Auf denen zu laufen ist für mich sehr viel anstrengender. Wenn die eng sind oder schräg, von Wurzeln durchzogen oder nass vom Regen. Dann muss ich ganz genau aufpassen, wo ich hintrete. Vor allem, weil ich Osteoporose habe. Da kann jeder Sturz der letzte sein. Aber das ist so ein bisschen abenteuerlich, und das ist auch das Salz in der Suppe.
Müssen Sie auf Ihr verbliebenes linkes Bein besonders achten?
Ja. Als ich 2012 nach München gewandert bin, hatte ich im linken Bein einen schmerzenden Insektenstich und bin in die Klinik, um das untersuchen zu lassen. Die haben mich sofort für drei Wochen da behalten. „Das ist ihr letztes Bein“, haben sie gesagt.
Welche Einschränkungen haben Menschen mit Prothesen im Alltag?
Viele kommen sehr gut damit klar, vor allem jüngere Menschen. Die sind super trainiert, da merkt man kaum, dass die eine Prothese tragen. Aber in vielen Bahnhöfen und S-Bahn-Stationen ist nicht an eingeschränkte Menschen gedacht.
Welcher Bahnhof ist besonders schlimm?
Der in Feuerbach zum Beispiel. Da ist die Stufe vom Bahnsteig in die S-Bahn entschieden zu hoch. Und manchmal kommt man auch sehr schwer in andere Züge. Als ich noch im Rollstuhl unterwegs war, war ich immer auf die Hilfe von anderen angewiesen, die mich in die Bahn heben mussten.
Und trotzdem sagen Sie, dass es Ihnen nach der Amputation und dem Koma besser geht als vor 20 Jahren?
Ja. Ich bewege mich mehr und esse viel ausgewogener. Jeder Mensch will sich wohlfühlen, und das geht nur, wenn man gesund ist. Und der Grundstein für eine gute Gesundheit ist ausdauernde Bewegung und körperliche Kräftigung. Und außerdem schaffen Herausforderungen erst den nötigen Anreiz. Wenn ich mich überwunden habe, das Ziel zufrieden erreicht habe, dann habe ich richtig was geschafft. Deswegen bin ich immer weiter gelaufen. Ich wollte und will nie aufgeben.
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