Erinnerungen an eine Zeit, als der Tanz sich und den Körper befreite: Marina Grün bei Proben zu „Ida Herion – Trace Back Session“ im Marmorsaal Foto: Yakup Zeyrek

Pionierinnen des Modern Dance wie Ida Herion brachten in den 1920er Jahren eine neue Art, sich zu bewegen, nach Stuttgart. In dieser Zeit entstanden die Fotografien von Herions Schülerinnen im Weißenburgpark. Nun beschwört Nina Kurzeja am Originalschauplatz die Stimmung von einst wieder herauf.

Stuttgart - Sie drehen und wenden sich und lassen sich ganz von Impulsen aus der Bauchmitte leiten: Im Produktionszentrum Tanz und Performance spüren Marina Grün, Lena Schattenberg, Kira Senkpiel und Samuel Feldhandler für die Premiere „Ida Herion – Trace Back Session“ dem Stuttgarter Ausdruckstanz der 1920er Jahre nach. Roderick Vanderstraeten begleitet ihre Bewegungen: Er bearbeitet Gasflaschen mit Sticks, lässt aber auch klassische Klaviermelodien und Textzitate erklingen.

Bereits im Sommer 2013 haben sich Tänzer der freien Szene beim Festival „Tanzlokal – Tanzfest Stuttgart“ mit Tanzpionieren wie Rudolf Laban, Kurt Jooss, Mary Wigman und Oskar Schlemmer auseinandergesetzt, die in Stuttgart und in der Umgebung gewirkt haben. Nun knüpft die Choreografin Nina Kurzeja erneut an die frühen Stuttgarter Tanzjahre an. Damals fotografierte Paul Isenfels, gefördert vom Mäzen Ernst Sieglin, beim Teehaus und im Marmorsaal junge Tänzerinnen in Arabesken und expressiven Posen, die sich an antiken Vorbildern inspirierten. 1927 veröffentlichte er die Bilder in seinem Band „Getanzte Harmonien“.

Es waren die Schülerinnen Ida Herions, die zwischen 1912 und 1954 mit der Herion-Schule viele Jahre den künstlerischen Tanz in Stuttgart prägte. „Ich finde es erstaunlich, dass man sich heute gar nicht mehr an sie erinnert“, meint Nina Kurzeja. Immerhin wurden Herions Tanzabende vom Vorläufer der heutigen Kulturgemeinschaft gefördert. „Stuttgart sollte sich dieser Wurzeln bewusst werden“, findet sie.

Charakteristisch für Ida Herions Tanztechnik war, dass alle Bewegungsimpulse aus der Körpermitte kommen

Wie aber kann man sich die alten Choreografien vorstellen, worum ging es Ida Herion? Kurzeja und ihre Tänzer können zum Glück auf eine Zeitzeugin zurückgreifen: Ursula Bischoff-Musshake, die in Stuttgart 1948 das Telos-Tanzstudio gründete, Hörgeschädigte integrierte und als Erste die Trainingsmethode von Pilates in den Stuttgarter Raum holte. Sie selbst hatte 1933 mit Tanzunterricht bei der Laban-Schülerin Ida Herion begonnen. Nina Kurzejas Ensemble hat die mittlerweile 87-jährige Zeitzeugin interviewt und die Zitate zum Teil in das Stück einbezogen. Bischoff-Musshake fühlte sich von Ida Herion richtig beflügelt: „Ich habe mich von ihrem Enthusiasmus anstecken lassen.“ Den pathetischen Ausdruck fand sie hingegen manchmal etwas peinlich.

Charakteristisch für Ida Herions Tanztechnik war, dass alle Bewegungsimpulse aus der Körpermitte kommen, außerdem bezog Ida Herion Improvisationen ihrer Schülerinnen mit ein, weiß Nina Kurzeja. Da kann sie Parallelen zu aktuellen choreografischen Prozessen erkennen: „So arbeitet man noch heute mit den Tänzern.“ Im Modernen Tanz dieser Jahre verbanden sich Gymnastikströmungen, Freikörperkultur und Reformbewegung, so Kurzeja. „Der Tanz diente als Beispiel einer Einheit von Seele, Geist und Körper in einer Zeit, in der die Industrialisierung weit fortgeschritten war“, ordnet Bernhard M. Eusterschulte, Dramaturg für das Stück, die Tanzströmungen dieser Jahre ein.

Bei den Lecture Performances, die am 26. und 27. Oktober jeweils um 19 Uhr im Marmorsaal stattfinden, erfahren die Zuschauer Näheres über die Anfänge des Modern Dance. Dank historischer Programme, die Kurzeja und Eusterschulte in den Archiven fanden, konnten sie sich von Aufführungen der Herion-Schülerinnen im Kuppelsaal des Kunstgebäudes ein Bild machen: „Groteske“, „Persisch“ und „Geisterspuk“ waren die Choreografien beispielsweise betitelt, die auch interkulturelle Einflüsse wie den orientalischen Tanz aufnahmen. In der Regel waren sie vom Klavier begleitet, etwa von Stücken von Bach, Rachmaninow, Mozart und Schubert: „Es gab ja keine Tonträger, nur Grammofon“, meint Kurzeja.

Zuschauer bei einem Video-Parcours durch den Park in die Stimmung der damaligen Zeit versetzt

In der Auseinandersetzung mit den historischen Bewegungen und Posen haben die Tänzer festgestellt, dass es sich bei den Bewegungen um „sehr energetische Vorgänge“ handelt. Auch Unterschiede sind ihnen aufgefallen, etwa die starke Beteiligung der Hände, was Kurzeja mit der Stummfilmgestik erklärt. Bei der „Trace Back Session“ werden die Zuschauer bei einem Video-Parcours durch den Park in die Stimmung der damaligen Zeit versetzt. Sie hören das elegische Vorwort aus „Getanzte Energien“ über den denkwürdigen Fotosommer und erleben als Höhepunkt Ida Herions Ausdruckstanz in der mythisch-märchenhaften Umgebung des Marmorsaals in modernem Gewand.

Premiere von „Ida Herion – The Trace Back Session“ ist an diesem Sonntag um 19 Uhr. Am 26. und 27. Oktober, 19 Uhr, gibt es im Marmorsaal bei freiem Eintritt ein Gespräch mit Ursula Bischoff-Musshake. Weitere Aufführungen vom 28. bis zum 31. Oktober. Karten: 01 77 / 310 23 53 und info@produktionszentrum.de