Der schlimmste Tag in Farhad Alsilos Leben ist bald zehn Jahre her. Den Anblick seines ermordeten Vaters wird der Maschinenbaustudent und Autor nie vergessen. Es ist nicht der einzige Schrecken, der dem jungen Jesiden widerfuhr. Wie lebt man damit?
Ganz oben in der Ecke des Wohnzimmers, in das Farhad Alsilo bittet, hängt ein gerahmtes Bild eines jungen Mannes mit Schnurrbart. Es ist das einzige Bild im Raum. Das sei Ibrahim, sagt Farhad Alsilo, als er auf einem silbrigblau schimmernden, weichen Sofa Platz genommen hat. Ibrahim ist sein 14 Jahre älterer Bruder – und sein großes Vorbild. Obwohl er nie die Schule besucht habe, habe er drei Sprachen gesprochen: Kurdisch, Arabisch und Englisch. Mit seinem Geschäftssinn hat er die Familie vor Jahren aus der Armut geholt. Was wurde aus Ibrahim? Seit einem blutigen Angriff von radikalislamischen Milizen am 14. August 2007 fehlt von dem erstgeborenen Sohn der Alsilos jedes Lebenszeichen. Die Familie weiß nicht, ob er ermordet oder verschleppt wurde. Es sei schwer, mit der Ungewissheit zu leben, sagt der fast 21-Jährige.
Es gibt noch ein Datum, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat: der 3. August 2014. Das Datum ging in die Geschichte ein, weil damals im Nordirak der Völkermord an den Jesiden begann. Für Farhad Alsilo ist es „der Tag, an dem meine Kindheit endete“. So hat er auch sein Buch genannt, das im November 2021 erschienen ist.
Seine Schultasche packte er für den Notfall mit Kleidung voll
Fast zehn Jahre sind vergangen seit dem „schlimmsten Tag“ seines Lebens. Es fühlt sich „wie gestern“ für ihn an, dass er aufhörte, ein unschuldiges Kind zu sein, das gerne draußen auf der Straße mit seinen Geschwistern, Cousinen und Cousins Lauf- und Wurfspiele spielte oder mit dem Fahrrad herumfuhr. Er weiß noch, wie sie die Abende zuvor vor dem Fernseher verbrachten und den Vormarsch der ISIS-Truppen verfolgten. Wie er sich seine Schultasche für den Notfall voll mit Kleidung packte. Wie die Hubschrauber der Islamisten plötzlich über ihr Dorf flogen.
Als ihn seine Mutter am 3. August weckte, war es noch mitten in der Nacht. Wie immer schliefen sie auf dem Dach, weil es im Haus viel zu heiß war. Das Nachbardorf war angegriffen worden. Er konnte Feuer sehen, Explosionen hören. Sie flohen mit dem Auto, das sein Vater Khaleel fuhr, der seine Kinder und befreundete Familien zum nicht weit weg gelegenen Haus eines Onkels brachte. Dort wähnte er sie sicher. Ein Trugschluss.
Die Schuhe konnte er nachts als Kopfkissen nehmen
Was dann kam, sieht Farhad Alsilo vor sich „wie in einem Film“: „dicke Männer“ mit langen Kleidern und einem Schal um den Kopf gewickelt stiegen „vollbewaffnet aus den Autos“. Sie schlossen die Mütter und Kinder in der Küche des Hauses ein. Männer und ältere Jungen mit Bartwuchs scheuchten sie in den Nebenraum. Die jungen Frauen, darunter auch seine vier älteren Schwestern, wurden in Autos gezwungen. Der elfjährige Farhad konnte durch ein Loch in der Wand nach nebenan blicken. Vor allem hörte er die Schüsse und lauten Schreie. Bis es still war. Schließlich Motorengeräusche von wegfahrenden Autos. Dennoch hätten sie zunächst Angst gehabt, die Tür aufzumachen.
Sein Vater habe noch kurz gelebt, als sie ihn fanden. Er war mehrfach getroffen. „Av“ war sein letztes Wort – Wasser. Seine Mutter habe die Lippen ihres sterbenden Mannes noch benetzt. Dann starb er. So viele tote Männer hätten in dem Raum gelegen, darunter sein Onkel Ato und sein 16 Jahre alter Cousin. Der junge Jeside hat die entstellten Leichen bis heute vor Augen. Begraben konnten sie sie nicht. Er floh mit der Mutter, seinem ein Jahr älteren Bruder und zwei jüngeren Geschwistern. Später war er froh, dass er zumindest Schuhe an den Füßen hatte. Die konnte er nachts als Kopfkissen nehmen.
Die Mutter wärmt die Kinder unter ihrem Kleid
Sein Buch ist auch Zeugnis der erschöpfenden Flucht, die durch die Wüste und durchs Sindschar-Gebirge führte. Sie „liefen und liefen“ sie und „wussten nicht wohin“. Sie schleppten sich zu Fuß bei 40 Grad voran. Immer auf der Suche nach Wasser. Manchmal hatten sie Glück und ein Lastwagen nahm sie ein Stück mit. Dann wieder „war uns so schwindlig, dass wir nicht mal wussten, wer uns wohin gebracht hatte und wo wir waren.“ Sie suchten zwischenzeitlich Schutz in einem Tempel, durften dort aber nicht übernachten. Hungrig und durstig schliefen sie auf hartem Gestein ein. Einmal füllten sie leere Benzinkanister voll mit Wasser, weil es die einzigen Behältnisse waren, die sie fanden. Später sollten sie deshalb Bauchschmerzen bekommen. Im Sindschar-Gebirge war es nachts eiskalt. Sie trugen T-Shirts, hatten keine Decken. Seine Mutter habe ihr weites Kleides über ihre Kinder gezogen, um sie zu wärmen. Nach sieben Tagen auf der Flucht waren sie in Sicherheit.
Seine Mutter sei seine Heldin, sagt Farhad Alsilo. Sie habe bis heute Schwierigkeiten, sich sicher zu fühlen, sei weiterhin in Therapie. Genauso wie seine Schwestern. Auch sein ein Jahr älterer Bruder sei traumatisiert. Er selbst habe „die Schmerzen zur Stärke“ gemacht. In der ersten Zeit in Stuttgart, wohin sie vor neun Jahren als jesidische Kontingentflüchtlinge kamen, habe auch er gemerkt, wie ihn die Gedanken festhalten. „Ich wollte fliegen“, so drückt er es aus, sich weiterentwickeln, doch die Erinnerungen, sie hätten ihn zurückgezogen; Kleinigkeiten konnten ihn aus der Bahn werfen. Wenn ein Mitschüler sagte, er nehme nicht die Bahn, sein Vater hole ihn ab. „Ich wollte das verarbeiten“, sagt Farhad Alsilo. Also fing er an zu schreiben. Er schrieb auf Deutsch nieder, was ihn quälte. Immer und immer wieder. „Für mich war es die beste Therapie.“
Nach Syrien verschleppt und zum Kauf angeboten
In seinem Buch hat er auch das Schicksal seiner vier älteren Schwestern in ihrem Namen aufgeschrieben. Es sind Zeilen, die besonders schwer zu lesen sind. Sie wurden zwangsverheiratet, verkauft, versklavt – und doch gelang ihnen allen wie durch ein Wunder die Flucht. Vor allem Khawla hat Unfassbares durchgemacht. Sie wurde nach Syrien verschleppt und dort verkauft. Den Schilderungen zufolge wurde sie vergewaltigt, bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen, versuchte sich umzubringen und wurde zeitweilig in einem dreckigen Schuppen ohne Licht gehalten, in dem kleine Schlangen lebten. Die Flucht gelang ihr, indem sie aus dem zweiten Stock des Hauses ihres „Besitzers“ sprang.
Seine Schwestern könnten nicht über ihr Erlebtes mit anderen sprechen. „Also mache ich das für sie“, sagt Farhad Alsilo mit fester Stimme. Er ist regelmäßig in Schulen zu Gast, um über den Völkermord an den Jesiden zu berichten. Manchmal kommen Schülern die Tränen, wenn er spricht. Aber ihm nicht. Auch im Bundestag hat er am Jahrestag des Völkermords gesprochen, auf Youtube ist er ebenfalls präsent.
„Farhad ist schon jetzt ein Gewinn für unser Land , für unsere gemeinsame Zukunft“, so drückt es Michael Blume, der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, der das Sonderkontingent des Landes Baden-Württemberg leitete, aus. Er sei ein Lernender und habe begriffen, wie wichtig Bildung ist. Denn Farhad Alsilos Geschichte ist nicht nur die von unendlichem Leid, sondern auch von Hoffnung, Ehrgeiz, Disziplin, Aufstieg.
Für Hobbys und Partys ist er „zu ehrgeizig“
Als der zwölfjährige Farhad hier das erste Mal eine Schule betrat, die Heizung, die Stühle, die Tafel registrierte, sei er sich „wie ein König“ vorgekommen. Er habe die Chance, die das Leben in Deutschland bietet, ergreifen wollen. Als Realschüler sei er jeden Tag um 4 Uhr morgens aufgestanden, habe kalt geduscht, gebetet und dann vor der Schule gelernt, weil er sichergehen wollte, sich möglichst oft melden zu können. Nach der Schule ging er in die Stadtbibliothek, um dort weiterzulernen. In der Unterkunft, wo sie da noch lebten, war es zu eng und zu laut.
Zehn seiner Mitschüler seien Deutsche gewesen – und doch habe er den besten Realschulabschluss geschafft. Nach dem Abitur am Technischen Gymnasium studiert er nun im zweiten Semester Maschinenbau. Er ist immer noch sehr diszipliniert, und er schreibt noch immer jeden Tag seine Gedanken nieder. Vielleicht wird daraus noch ein Buch. Ausgehen, Hobbys und Spaß haben? Dafür sei er zu ehrgeizig. Außerdem trage er Verantwortung für seine Familie. „Ich bin auf die Welt gekommen, um eine Aufgabe zu erledigen“, ist er überzeugt.
Informationen zum Buch
Info
Das Buch „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ von Farhad Alsilo ist im Trabantenverlag erschienen (ISBN 978-3-9822649-9-8). Es hat 160 Seiten und beinhaltet auch Hintergrundinformation über die jesidische Gemeinschaft, Religion und Kultur. Neben Michael Blume hat auch die Autorin und Journalistin Düzen Tekkal ein Vorwort geschrieben.
Völkermord
Nach Angaben der UN wurden bei dem Völkermord an den Jesiden 5000 bis 10 000 Angehörige der religiösen Minderheit ermordet und mehr als 7000 Frauen und Kinder entführt. Auch der Bundestag hat die Verbrechen des IS im Januar 2023 auf Antrag der Ampel-Fraktionen sowie CDU/CSU als Völkermord anerkannt.