Die Staatsoper Stuttgart plant hoffnungsvoll Vorstellungen im Dezember, und die Proben gehen weiter – trotz der verordneten Corona-Veranstaltungspause. „Wir haben eine Fürsorgepflicht für die Künstler“, sagt der Intendant Viktor Schoner.
Stuttgart - Dort, bei den Fenstern, die zum Schlossgarten hinausgehen, ist die Bühne. Und an der Wand, wo der Dirigent am aufgeklappten Flügel steht, ist das Orchester. Rechts ist Süd, und links ist Nord. Alles klar? Die Sänger nicken: Alles klar. An einem regnerischen Herbstmorgen sind die Sopranistin Federica Lombardi und der Tenor Charles Sy in den ersten Rang des Stuttgarter Opernhauses gekommen, um dort für Mozarts „Don Giovanni“ zu proben. Sy, zurzeit noch Mitglied des Opernstudios, übernimmt als Don Ottavio seine erste große Rolle. Lombardi, die bereits international Karriere macht, hat im „Don Giovanni“ zuerst als Donna Elvira Aufsehen erregt, einmal dirigiert von Teodor Currentzis, ein anderes Mal (an der Met) von Cornelius Meister, der sie als „ideale Donna Anna“ nach Stuttgart geholt hat.
Jetzt sitzt der Generalmusikdirektor an den Tasten und probt. Nicht die Arien, sondern die Passagen dazwischen, die Rezitative. Und es geht um weit mehr als nur um Musik. Wer sind die beiden Figuren da auf der Bühne? Was erleben, was erwarten, was fühlen sie? Wie gehen sie aufeinander zu und miteinander um? Wie stellt sich Spannung zwischen ihnen her? Meister macht die Probenarbeit selbst im Kleinen zur Chefsache. Man nimmt auch die bevorstehenden rein konzertanten Aufführungen ernst: Man feilt – auf Deutsch, Englisch, Italienisch – mehrere Wochen an der Aussprache, aber auch an den Auftritten und der inneren Haltung. Cornelius Meister ist fast so etwas wie ein Regisseur. „Unsere Arbeit im Opernhaus“, sagt er selbst später, „beginnt nicht mit den szenischen Proben. Die Frage nach der Dramatik stellt sich schon monatelang zuvor im Klavierzimmer. So haben bereits Gustav Mahler, Richard Wagner und Arturo Toscanini gearbeitet. Auch wenn heute die Regie einen größeren Stellenwert einnimmt als damals, ist es falsch, dies zu vergessen und zu sagen, die Rezitative proben wir erst, wenn wir wissen, ob sich die Inszenierung nun im Schwimmbad abspielen soll oder auf einem Friedhof. Die Dramatik des Stücks ist von diesem Setting total unabhängig.“
Sechs Meter Abstand müssen die singenden Akteure einhalten
So sieht das hier tatsächlich aus: Im „Don Giovanni“, der Corona- und kurzarbeitsbedingt im Oktober nur ein einziges Mal konzertant im Opernhaus gegeben worden ist (die zweite geplante Vorstellung im November fiel aus), spürt man das Musiktheater auch ohne Kostüme, Masken und Requisiten. Es tönt aus den Melodien, aus den Harmoniefolgen, bei denen der Dirigent am Flügel deutlich macht, wo und wie sie das dramatische Tempo vorgeben. Und es entsteht aus dem Spiel der Sänger, die im „Don Giovanni“ bis auf Federica Lombardi allesamt Ensemblemitglieder sind. Dass, wer in Stuttgart eine Partie singt, unbedingt wissen muss, was die anderen singen und tun: Das betont Meister ebenfalls; diese Haltung gehört zur Tradition des Hauses.
Sechs Meter Abstand müssen singende Sänger in Corona-Zeiten einhalten. Wenn sie starr an der Rampe stehen oder nicht singen, reichen zwei Meter. Das Bühnengeschehen mitsamt den Auftritten und Abgängen, ahnt man, muss momentan sehr genau durchdacht sein, damit alles regelkonform zugeht.
Wie es weitergehen wird? Cornelius Meister hat, als der zweite Lockdown für die Kultur verkündet wurde, einen offenen Brief geschrieben: „Um Corona-Infektionen zu vermeiden, bringt es offensichtlich nichts, Kulturstätten zu schließen. Wo sich bereits vorher null Menschen gegenseitig angesteckt haben, werden in den nächsten Wochen nicht weniger als null Infektionen möglich sein.“ Ironisch kommentiert auch eine Twitter-Werbeanzeige des Konzerthauses Dortmund die Situation mit dem Spruch „Bleiben Sie im Konzerthaus, zu Hause ist es zu gefährlich!“ Als mahnendes Beispiel für ein schreckliches Post-Corona-Szenario nennt Meister die New Yorker Metropolitan Opera, deren Musiker sich nach der Auflösung des Orchesters jetzt in Europa auf Stellen in ganz Europa bewerben.
Die Premiere von „Werther“ soll im Dezember nachgeholt werden
„Als subventioniertes Haus haben wir eine Fürsorgepflicht gegenüber den Künstlern, besonders auch gegenüber den freischaffenden, die bei jetzt ausfallenden Vorstellungen keine Gage erhalten und außerdem keine Lobby haben“, sagt der Intendant des Hauses, Viktor Schoner – hier sei „die rote Linie erreicht“. Auch deshalb plant man in der Staatsoper jetzt „vorsichtig“ Aufführungen im Dezember. Schließlich seien die Staatstheater – diesen Kommentar zu den Formulierungen der geltenden Corona-Verordnungen kann sich Schoner nicht verkneifen – keineswegs eine Vergnügungsstätte, sondern befänden sich eher in der Nähe zu den weiterhin geöffneten Ausbildungsstätten und Kirchen: „Wir bieten Bildung und Seelenbalsam.“ Im September und Oktober sei das Haus „nicht voll, aber ausverkauft“ gewesen, man habe sich über das „wahnsinnig treue“ Stuttgarter Publikum gefreut, die Mitarbeiter seien guter Dinge gewesen, und auch weiterhin gelte: „Wir können Kunst machen, wenn das Virus uns lässt.“ So plant man, die ausgefallene November-Premiere von Massenets „Werther“ im Dezember nachzuholen, und Schorsch Kamerun hat auch bereits für den Ravel-Abend („Verzauberte Welt“ am 19. 12.) zu proben begonnen – mit viel Abstand und mit kleinen Gruppen von Kindern.
„Es gibt bei uns“, räumt Schoner ein, „aber keinen Hyperaktivismus wie noch im Frühjahr. Wir sind auch frustrierter als damals.“ Schlimm wäre es, wenn die kommenden Monate für Kulturschaffende zur Achterbahnfahrt würden. „Was“, fragt sein Generalmusikdirektor, „soll aus der Gesellschaft werden ohne Kultur?“