Groß war der Andrang auf das türkische Wahllokal in der Lorenzstraße. Foto: / Andreas Rosar/Fotoagentur

Die Stichwahl in der Türkei ist entschieden: Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan hat sich gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu durchgesetzt. Wie fallen die Reaktionen in der türkeistämmigen Community aus? Reaktionen aus Stuttgart und der Region.

Muhterem Aras hört gerade „Mensch“ von Herbert Grönemeyer. Darin heißt es: „Wir verlieren und versuchen es trotzdem. Weil wir lieben. Weil wir leben.“ Irgendwie passt es zu diesem Abend. Jedenfalls ist es der Landtagspräsidentin und Stuttgarter Grünen-Abgeordnete danach.

Die Türkei hat gewählt und Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan über seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu gesiegt. Zur Enttäuschung von Aras. „Es gab den großen Wunsch nach mehr Rechtsstaatlichkeit.“ Jetzt bestehe die Gefahr, dass die Türkei weiter in Richtung Autokratie abgleite, auch aufgrund des Rechtsrucks bei den vorangegangenen Parlamentswahlen. „Ich wünsche, dem Land, dass es anders kommt“, sagt sie. Aktuell sei die Türkei zutiefst polarisiert. Die Verantwortung dafür liege bei Erdogan. „Ich hoffe, dass er auf die Opposition zugeht.“

Angesichts der erneut hohen Zustimmungswerte, die der Amtsinhaber bei den Türken in Deutschland erreichte, stellt sich für Aras die Frage, wie die Erdogan-Anhänger es mit den Werten einer pluralistischen Gesellschaft halten. „Sie profitieren von Freiheitsrechten und Rechtsstaatlichkeit, und gleichzeitig unterstützen sie einen antirechtsstaatlichen Kurs.“ Für Aras ein offenkundiger Widerspruch: „Hier stellt sich auch die Frage nach der Integration.“

Der Wunsch nach dem deutschen Pass

Einen bitteren Abend erlebt Nazan Kilic vom Verein CHP Württemberg. Seit vielen Jahren engagiert sich die 39-Jährige aus Esslingen für die Partei von Herausforderer Kilicdaroglu. Dieses Mal schien der Sieg greifbar nahe. Nach den Hochrechnungen am Sonntagabend weiß sie: Der Traum ist geplatzt. „Es ist entschieden. Aber ich möchte nicht daran glauben.“

Was sie besonders frustriert, ist die Tatsache, dass erneut eine deutliche Mehrheit der hier lebenden Türken für Erdogan gestimmt hat. „Die Türken in Deutschland haben über die Zukunft der Türkei entschieden“, sagt sie. Rund 1,5 Millionen Wahlberechtigte leben hier; davon etwa 240 000 in Baden-Württemberg, die vom 20. bis 24. Mai in Stuttgart und Karlsruhe ihre Stimme abgeben konnten. Die Erdogan-Anhänger hier hätten’s leicht, meint Nazan Kilic, denn sie müssten nicht mit den Konsequenzen ihrer Wahl leben. Die Türkei würden sie häufig nur aus der Urlauberperspektive wahrnehmen.

Sie selbst ist entschlossen weiterzumachen. „Das ist nicht das Ende. Wir hören nicht auf, unsere Stimme zu erheben.“ Bei ihr schwingt jedoch auch eine Sorge mit: Wie wird Erdogan reagieren? Kilic hatte sich all die Jahre bewusst für die türkische Staatsangehörigkeit entschieden. Jetzt will sie einen deutschen Pass beantragen. „Zur Sicherheit“, sagt die zweifache Mutter.

Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) tröstet sich mit einem „Achtungserfolg der Opposition: „Der Stuhl von Erdogan hat immerhin gewackelt. Das war‘s aber schon an guten Nachrichten.“ Die türkische Politik bleibe auch in den nächsten Jahren fest in Erdogans Hand. „Selbstverständlich gilt es, dieses Ergebnis zu respektieren. Aber es schmerzt auch zu sehen, wie sich die Türkei immer weiter von Demokratie und Rechtsstaat, aber auch von ihren westlichen Bündnispartnern entfernt“, betont Bayaz.

Die Türkische Gemeinde hatte keine Wahlempfehlung abgegeben

Die Wahlanalyse von Gökay Sofuoglu, dem Stuttgarter Vorsitzenden der rund 60 000 Mitglieder zählenden Türkischen Gemeinde in Deutschland, fällt nüchtern aus. Im Wahlkampf sei es überhaupt nicht um Sachthemen gegangen, sondern nur um Emotionen. „Und wenn es um Emotionen geht, kann niemand mit Erdogan mithalten.“ Viele Türken hätten den Herausforderer Kilicdaroglu medial gar nicht zu Gesicht bekommen, weil Erdogan Wahlkampf auch mit Hilfe des Staatsapparats gemacht habe, meint Sofuoglu. Die nationalistischen Töne, die Kilicdaroglu vor der Stichwahl angeschlagen habe, hätten Wähler verschreckt – ablesbar in der niedrigeren Wahlbeteiligung in kurdischen Gebieten im Vergleich zur ersten Wahl am 14. Mai.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland hatte selbst keine Wahlempfehlung ausgesprochen; sie wollte eine Polarisierung in den eigenen Reihen vermeiden. „Wir kümmern uns um die wichtigen Themen in Deutschland“, sagt Sofuoglu. An erster Stelle steht für ihn die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.

Kerim Arpad, Geschäftsführer des Deutsch-Türkischen Forums in Stuttgart, ist vom Wahlausgang nicht überrascht. „Auch wenn ich mir mehr Demokratisierung gewünscht hätte, muss man das Ergebnis akzeptieren“, sagt er. Erdogan sei jetzt gefordert, das zutiefst gespaltene Land zu einen und die großen Probleme der Türkei anzugehen – vorweg die wirtschaftlichen Probleme des Landes.

Blutige Auseinandersetzung in der Stuttgarter City

Der Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoglu (SPD), der auch Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe ist, wertet den Wahlausgang als „Schlag ins Gesicht von Erdogan“: „Er hat eine klare Mehrheit versprochen und nur einen knappen Vorsprung erzielt – trotz einer Diffamierungskampagne gegen den Herausforderer, einer medialen Übermacht und aller Schändlichkeiten und Schäbigkeiten.“ Seine Schlussfolgerung: „Erdogan hat gewonnen, aber er kann aus diesem Ergebnis keine Legitimität ableiten.“

Ganz anders sehen das Erdogan-Anhänger, die am Sonntagabend hupend und Fahnen schwenkend durch die Stuttgarter City fahren. Die Polizei spricht zunächst von kleineren Korsos. Besondere Vorkommnisse habe es nicht gegeben, erklärt ein Sprecher gegen 22 Uhr – und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass es so bleiben möge. Das ist nicht der Fall. Autos mit Erdogan-Anhängern werden von Unbekannten mit Flaschen und Steinen beworfen. Im Bereich der Theodor-Heuss-Straße kommt es zu einer blutigen Auseinandersetzung mit drei Verletzten, wie die Polizei später berichtet. Im Laufe des Montags will sie sich näher zu den Vorfällen äußern.