Der Angeklagte hatte seine Unschuld beteuert – jetzt hat ihn das Landgericht vom Vorwurf des Missbrauchs seiner Stieftochter freigesprochen. Foto: dpa

Das Landgericht Stuttgart hat einen 49 Jahre alten Mann vom Vorwurf des 104-fachen sexuellen Missbrauchs seiner Stieftochter freigesprochen. Im Zweifel müsse die Strafkammer für den Angeklagten entscheiden, so der Richter.

Stuttgart - Die Vorwürfe wogen schwer und sorgten schon ob der Zahl von 104 Fällen des sexuellen Missbrauchs für Stirnrunzeln. „Diese Vorwürfe stimmen nicht“, hatte der 49-jährige Angeklagte am ersten Prozesstag gesagt. Doch seine Chancen standen schlecht. Meist verlässt sich die Strafkammer auf ihre eigene Sachkunde. In diesem Fall jedoch wurde ein Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt, um sicher zu gehen, dass das Opfer die Wahrheit sagt. Die Sachverständige bejahte dies – rückte im Lauf des Prozess jedoch ein Stück weit davon ab.

2002 hatte der Angeklagte die Mutter des mutmaßlichen Opfers geheiratet. Als das Mädchen 13 Jahre alt war, soll der Stiefvater begonnen haben, zudringlich zu werden. Von 2009 bis Ende 2012 soll er das Mädchen missbraucht, vergewaltigt, geschlagen haben – meist in der Familienwohnung in Stuttgart. Der Akademiker, einst Verwaltungsdirektor eines Energiekonzerns im Iran, soll seine Stieftochter mit Drohungen, Schlägen, Versprechungen und Geschenken gefügig gemacht haben.

Angeklagter trat in Hungerstreik

Das alles weist der Mann weit von sich. Aus Protest gegen seine Verhaftung war er in U-Haft für 33 Tage in den Hungerstreik getreten. Nach fünf Monaten hinter Gittern wurde er auf freien Fuß gesetzt, weil keine Fluchtgefahr bestehe. Er stellte sich seinem Prozess und gab an, seine Stieftochter wolle sich an ihm rächen, weil er sie immer sehr streng kontrolliert habe.

Mehrere Tage lang wurde die inzwischen 20 Jahre alte Studentin vor Gericht befragt. Rainer Gless, Vorsitzender Richter der 7. Strafkammer, bescheinigte ihr später eine gute Aussagequalität und -konstanz. Möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlicher Weise, hätten sich die Vorwürfe wie angeklagt zugetragen – wenn auch in geringerer Zahl, so der Richter. Aber: „Restzweifel konnten von der Kammer nicht sicher ausgeräumt werden“, sagte der Richter in der Urteilsbegründung. Zwar sei das behauptete Falschaussagemotiv der jungen Frau, sie wolle sich am Stiefvater rächen, schwach. Schließlich habe sie bei der Anzeigenerstattung schon länger nicht mehr zuhause gewohnt. Trotzdem sei die Fantasie-Hypothese nicht zweifelsfrei zu widerlegen.

„Merkwürdige Lügengeschichten“

So habe die Frau einige „merkwürdige Lügengeschichten“ vor Gericht eingeräumt, so Gless. Ein Freund habe einen Herzinfarkt erlitten, eine Freundin habe versucht, sich umzubringen, sie selbst sei am offenen Herzen operiert worden und als Kind schon einmal missbraucht worden – alles nicht wahr.

Am Ende relativierte die Gutachterin ihre Expertise. Sie könne nicht mehr mit Sicherheit sagen, die Aussagen der Frau bezüglich des Missbrauchs seien definitiv erlebnisbezogen. Also plädierte selbst die Staatsanwältin auf Freispruch – Verteidigerin Peggy Eisele hatte dies ebenso getan. Allein Nebenklägervertreter Jörg Hafner sah den Angeklagten als überführt an und forderte eine angemessene Strafe. Die Richter folgten der Staatsanwaltschaft und Verteidigung.