Nadja Küchenmeisters „Im Glasberg“ bezieht sich auf das Märchen „Die sieben Raben“ der Gebrüder Grimm Foto: Adobe Stock/Zacarias da Mata

Die Stuttgarter Lyriknacht eröffnet an diesem Freitag im Literaturhaus mit Autoren und Gesprächen die literarische Saison. Es geht um Dämonen, Raben, Vögel und allerlei Gezwitscher.

Stuttgart - Wir leben im Zeitalter globalen Gezwitschers. Aber was die Sprache der Vögel dem entgegenzusetzen hat, was die Twitter-Spatzen alltäglich von den Dächern pfeifen, lässt sich in der anbrechenden Stuttgarter Lyriknacht erfahren.

Jedes Jahr wird die literarische Saison mit einem Hochamt der Sprache eröffnet, bei dem sich die drei wichtigsten Institutionen der Stadt auf diesem Gebiet zusammentun, Literaturhaus, Stadtbibliothek und Schriftstellerhaus, um die Sinne zu schärfen für das, aus was Literatur in ihrer reinsten Form besteht. Und was dieses Mal geboten wird, könnte man getrost unter dem Titel Birdwatching fassen.

Henning Ziebritzki

Den Ton gibt der Tübinger Henning Ziebritzki vor, der in diesem Jahr mit dem Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Sein „Vogelwerk“ (Wallstein Verlag) ist eine lyrische Ornithologie: 52 Gedichte, die das Leben aus der Vogelperspektive in den Blick nehmen. Das klingt harmloser als es ist. Den geflügelten Wesen, den Wasseramseln, Rohrweihen, Rauchschwalben und Kormoranen entgeht nichts von den Irritationen und Verunsicherungen jener alltäglichen Augenblicke, die sie durchflattern. Die Vögel schauen zurück, „Aug in Aug“ mit ihnen erfährt der Betrachter die Welt. „Er steht im Fließen, / bereit bis in die Schnabelspitze und der Kopf geschrägt, / damit er im Blick hat, wie es mich bewegt, alles bleibt / Form, als er sich auffaltet, rauschend, schreitet und abhebt“, heißt es über den Graureiher. Anders als der heilige Franziskus predigt der evangelische Theologe Ziebritzki, der fünf Jahre als Pfarrer gearbeitet hat, nicht den Vögeln. Eher umgekehrt. Es sind die Tauben, die zum Betrachter kommen, ihn zu füttern. Eine Amsel hat Ziebritzki aus der Schaffenskrise geführt, als er beim Schreiben eines Gedichts nicht weiterwusste. Daraus entstand ein Werk, das in allen Farben schillert wie leuchtendes Gefieder.

Nadja Küchenmeister

Immer wieder wurde in den letzten Jahren von einer Renaissance des Gedichts gesprochen. Zu den Namen, an denen sich dies festmachen ließe, zählt auch die Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister. „Im Glasberg“ (Schöffling) heißt ihr jüngster, dritter Band. Und auch hier begegnet man Vögeln. Denn der Titel bezieht sich auf das Märchen „Die sieben Raben“ der Gebrüder Grimm. Um seine in Raben verwandelten Brüder zu retten, muss ein Mädchen ins Innere des verwunschenen Glasbergs gelangen: „ich bin mitten im kreis / teller voll brot becher voll wein / mein ring mein herzstück / der mond ist die sonne / schwarzer vogel steh mir bei.“ In Versen wie diesen beschwören diese Gedichte eine verwunschene Welt. Sichtbar und gleichzeitig entrückt, wie hinter Glas. Der Rabe ist ihr Wappentier.

Eva Christina Zeller

Nichts hat unsere Wirklichkeit so verwandelt, wie die Corona-Pandemie. Vor ihr hat sich die wie Ziebritzki in Tübingen lebende Autorin Eva Christina Zeller an einen Ort so entlegen wie der Glasberg in dem Grimm’schen Märchen in Sicherheit gebracht. In freiwilliger Quarantäne lebte sie einige Wochen auf einem Eiland irgendwo zwischen Schweden und Finnland. Dort ist ein Teil der Gedichte entstanden, die ihr neuer Band versammelt: „Proviant von einer unbewohnten Insel“ (Klöpfer, Narr). Und das erste, was einem entgegenpurzelt sind drei junge Schwalben, „als würden sie gleich in der luft / untergehen – verpasst / das fallen der schrei / und dann / ein öffnen der flügel.“ Zellers Lyrik protokolliert die sinnenschärfende Einsamkeit ihrer Robinsonade, aber auch die Angst und Ausgesetztheit gegenüber einer übermächtigen Natur, die sich dem Ausdruck entzieht: „das wilde ist ohne sprache“, beginnt ein Gedicht, „aber ich suche sie im / möwenschrei und schwalbenflug“.

Marcel Beyer

Den Büchnerpreisträger Marcel Beyer, mit dem die Stuttgarter Lyriknachnacht endet, könnte man einführen als jemand, der Romane über Fledermäuse und Vögel schreibt. Doch in seinem neuen Gedicht-Band „Dämonenräumdienst“ nach einem ornithologischen Einschlag zu suchen, hieße die Suche nach Gemeinsamkeiten zu weit zu treiben.

Eher begegnet man hier dem unheimlichen Yorkshire Terrier Daisy des Münchner Modezombies Rudolf Mooshammer („ein Hund, / und sei er noch so klein, kann / lebendige Wesen zerbeißen“), Bambi („der Dichter arbeitet als Reh im Innendienst“) oder dem Hai der bei Damien Hirst Modell gesessen hat. Wenn man jedoch die aus allen kulturellen Sphären eindringenden Dämonen, die sich wie Grotesken durch die strenge Ordnung der aus jeweils zehn Vierzeilern bestehenden Ordnung winden, generell der luftigen Sphäre zuweisen würde, wäre man wieder nah am Vogelwerk. Und siehe da, schon fliegt ein Amselpapst vorbei: „Ich sah den Amselpapst, man konnte / ihn nicht übersehen, ich / sprach das Stoßgebet, doch es war / schon um mich geschehen.“

Zur Veranstaltung

Hintergrund
Die Stuttgarter Lyriknacht ist eine gemeinsame Veranstaltung des Literaturhauses, der Stadtbibliothek und des Schriftstellerhauses. Alle Lesungen finden im Literaturhaus statt.

Programm
Von 19 Uhr an stellt Henning Ziebritzki „Vogelwerk“ vor , moderiert von Moritz Heger. Im Anschluss folgt Nadja Küchenmeisters „Im Glasberg“, Moderation Michaels Braun. Begleitet von Beate Tröger geht um 20.40 Uhr die Reise weiter mit Eva Christina Zellers „Proviant von einer unbewohnten Insel“. Den Abschluss am Abend macht Marcel Beyers „Dämonenräumdienst“ im Gespräch mit Michael Braun.